Vor dem Fest
unsere Fallgrube gerathen. So ist viel Schaden von zehn Wolffen von unsrem Vieh abgewendet worden.
DIETMAR DIETZ BERUHIGT SICH RASCH nach dem Eierdiebstahl; er erkennt den Witz des Fuchses an, die jungen Männer pflichten ihm bei. Sie kommen ins Gespräch. Die beiden fragen nach dem Fest, sie hätten gehört, es lasse sich in Fürstenfelde sehr gut tanzen. Ditzsche korrigiert: Gut tanzen lasse sich überall, wenn man gut tanzen kann. Den beiden gefällt die kleine Angeberei, sie nehmen Abschied und wünschen dem Alten – er hört es gern – ewig gute Musik dabei.
Ditzsche wird tanzen, wird mit den Hüften kreisen, ohne dass es heikel aussieht. Er wird nach Rasur riechen und Frau Reiffs Apfelkuchen. Umgeben von den steinernen Mienen der Seniorenpolka fällt Leidenschaft extrem auf.
Manche von den Älteren haben auch vergessen oder sogar verziehen. Der Imboden nicht, der kriegt sich kaum ein, wenn Ditzsche irgendwo auftaucht. Aber Zieschke hat letztes Jahr ein tangoähnliches Stück gespielt, und Frau Kranz hat mit Ditzsche dazu getanzt. Die beiden waren ja schon hier, als das innige Verhältnis von Ditzsche zu unserer Post rauskam.
Aber mal unter uns: Hast du dir noch nie vorgestellt, bei einem Spaziergang zum Beispiel, nachdem der Briefträger gerade in einem Hauseingang verschwunden ist, wie das wäre, aus dem gelben Kasten am gelben Fahrrad eine Handvoll weißer Briefe rauszuholen oder gleich aufzusteigen und wegzuradeln und den Tag mit dem Leben und den Rechnungen anderer Leute zu verbringen?
Heute, mit Internet, wäre das unergiebiger als zu Ditzsches Zeiten. Heute schreiben alle E-Mails. Gut, bei uns schreiben nicht alle E-Mails. Und bei den E-Mails lesen auch wieder andere mit, Viren und Amerikaner, aber da regt sich kaum einer auf. Früher hat eben nur Ditzsche gelesen. Und die Stasi. Bei uns vielleicht wirklich nur Ditzsche. Dabei wusste und weiß hier sowieso jeder alles über jeden.
Wenn es Ditzsche einmal nicht mehr gibt, wird Fürstenfelde weniger gut tanzen. Imboden wird auch nicht jünger. Dietmar Dietz kost seine Hühner gelegentlich auf Spanisch. Vielleicht hat er Tanzen auf Kuba gelernt, vielleicht an der Volkshochschule. Vielleicht tanzt er auch gar nicht so gut, aber jemand hat es mal mit Überzeugung behauptet, und so ist dann Wahrheit draus geworden, was wissen wir schon? Meistens geht es ja nicht darum, was stimmt, sondern darum, was die Leute glauben.
Beim Ausliefern der Briefe legte Ditzsche manchmal selbstvergessen ein Tänzchen hin. Jeder sieht einem selbstvergessen Tanzenden gern zu, der eventuell gute Nachrichten bringt. Vielleicht tänzelte Ditzsche ja aus Freude, weil er die gute Nachricht schon kannte.
Dietmar Dietz gibt im Monatbei einer Rente von 534 Euro knapp 300 Euro für seine Hühner aus. Wenn es Ditzsche einmal nicht mehr gibt, wird es in Fürstenfelde kein Rassehuhn mehr geben. Hühner werden einfach Hühner sein. Wenn du einmal gefällige Hühner gesehen hast, wenn du einmal Ditzsches Kraienköppe hast marschieren sehen, dann wirst du den Verlust als Verlust begreifen.
Es ist doch tröstlich zu wissen, dass es unter uns jemanden gibt, der sich mit seltenen Wesen oder bisher ganz und gar ungewesenen Wesen auskennt, ganz egal, ob Biologe, Genforscher oder Hühnerzüchter. Dass jemand, um es mit Herrn Schramms Worten zu sagen, ein Talent hat für die Schöpfung von Neuem und die Einhaltung der Norm. Ein Talent, dass das Frühstücksfernsehen anruft und Ditzsche »Herrn Dietz« nennt und sich nach seiner Verfügbarkeit erkundigt, und Herr Dietz bringt zögerlich den Witz, er müsse mal in den Terminkalender gucken. Das Frühstücksfernsehen sagt, es könne nur ein Sonnabend sein, und Ditzsche gibt zurück: »Dann kommen Sie doch zum Fest, da haben Sie auch sonst was zu sehen, nicht nur meine Hühner.«
Als die Leute sonntags noch spazieren gingen, öffnete Ditzsche den Innenhof und ließ die Hühner aus dem Gehege. Die Spaziergänger wollten die Hühner sehen, und die Hühner wollten gesehen werden; sie stolzierten umher, die Kinder klatschten in die Hände. Ditzsche stand irgendwo abseits und tat irgendwas, und kein Huhn verließ je den Hof. Das ist lang vorbei, und die Hühner seien nicht stolziert, würde Ditzsche sagen, die Hühner hätten eine etwas angehoben getragene Brustpartie und eine langgestreckt schnittige Figur gehabt.
Schon damals verließ Ditzsche das Haus nur wegen der Arbeit, wegen den Hühnern und um bei Blissau das Tanzbein zu schwingen. Trotz der
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