Vor dem Fest
DIESER NACHT GIBT ES MISSETAT, ABER KEIN UNRECHT. Gibt es Irrtum, aber keinen Fehler. Gibt es das Gericht und kein Urteil. Gibt es nur noch Wind und keinen Regen mehr.
Es ist Anna, die Fragen stellt, nachdem sie sich ein wenig beruhigt hat. Herrn Schramm wundert gar nichts mehr. Frau Schwermuth schnieft, die blasse Stirn in Sorgenfalten. Sie hat die Pickelhaube unter den Arm geklemmt. So schnell wie möglich zur Heimat, war ihre Antwort auf die erste Frage, sie fürchte, ihren Sohn eingesperrt zu haben. Und auf die zweite: dass sie natürlich wisse, was mit ihr los sei, aber nicht erklären könne, warum ausgerechnet heute Nacht so heftig. Die Geschichten seien es. Die machten sie wach, wo die Medikamente sie müde machten und fett. Die aber hielten die Geschichten unter dem Deckel. Die Geschichten und jene, die sie bevölkern.
Anna starrt Frau Schwermuth so forschend an wie Herrn Schramm die ganze Nacht. Sie denkt an das Feld beim Gehershof. An jene, die es bevölkern. An jene, die sie als Kind, wenn sie nicht schlafen konnte, auf dem Feld angesiedelt hatte. Anna sagt, sie könne sich vorstellen, wie das sei. Frau Schwermuth sagt, das sei lieb, aber niemand könne sich das vorstellen, was sie sich vorstellen könne, niemand. Dann sagt Frau Schwermuth: Ich vermag, der Nacht Namen zu geben.
Anna stellt keine Fragen mehr. Herr Schramm denkt über »Ich vermag« nach. Darüber, dass er noch nie einen Satz gesagt hat, der mit »Ich vermag« begann.
Die Nacht hieß Flut, jetzt ebbt sie ab, schaut her, was sie angespült. Zwischen dem Strandgut wandern wir, ja nicht auf etwas treten! Frau Schwermuth hat Wimpern, so lang und schön, und wenn sie blinzelt, schlägt die Finsternis Wellen.
Frau Schwermuth läuft voran in den Keller. Hastig tippt sie den Code ein, zieht die Tür auf. Dämmriges Licht. Bücher, Hefte, Papier, in Regalen und frei aufgestapelt. Dicke Folianten, loses Pergament, die lederne Haut.
»Oha«, sagt Herr Schramm. Herr Schramm liest nicht so gern.
An der Decke leuchtet ein Lämpchen, die Maschine fiept, reguliert. Es ist kalt. Das Leder an den Wänden schimmert und rührt sich. Eine Haut aus Geschichten ist das, die uns wächst.
Johann sitzt auf dem Tisch, Füße auf dem Stuhl, ein dickes Buch im Schoß. Neben ihm der Glöcknerzylinder. Johann friert. Frau Schwermuth lässt den Helm fallen, kurvt geschickt um die Papierberge, umarmt Johanns Beine, schluchzt. Johann legt die Hand auf den Rücken seiner Mutter.
»Mann, Mu.« Er klingt nicht sauer. Das geht nicht, wenn Mu so drauf ist. »Ist ja gut, ist gut.«
So viel Papier und nirgendwo ein Taschentuch. Frau Schwermuth berührt Johanns Wange. Ob wirklich alles in Ordnung ist. Nein, aber es wird. Und bei ihr? Nein, und das wird es wohl niemals sein.
Die Buchseiten auf Johanns Schoß sind fein verziert, die Typo der von Unforgiving ähnlich. Johann klappt das Buch zu.
Frau Schwermuth schreit kurz und schrill auf. »Johann! Hast du keine Handschuhe getragen?« Sie hat ihre Stimme zurück. »Mensch, siehst du denn nicht, was das ist!« Sie zaubert ein paar weiße Handschuhe aus der Luft, nimmt Johann das Buch weg und legt es behutsam auf den Tisch. Der Umschlag ist an den Rändern angekohlt. Sie schlägt es auf, ihre Pupillen wandern von links nach rechts, in den Seiten rumort der Donner.
1613, den 23. Septembris, ist allhier bey grausam Gethön die Kirchspitz vom Donner durchschlagen, damit eine Glocke im selben Thurm in zwey Stück gesprungen und zwey Häuser und eine Scheune voll Korn angezündet und ausgebrannt.
Frau Schwermuth schließt die Augen, atmet ein und aus. Hundertmal hier gesessen und gelesen und unter dem Früher nach Zeichen gegraben für das Heute, Pläne der Vergangenheit mit uns, mit ihr, gedeutet.
Johann nimmt ihre Hand. Frau Schwermuth öffnet die Augen. Sie sieht sich nach den Besuchern um. Schramm und das Mädchen – beide vertieft ins Leder. Auch sie suchen. Herr Schramm ist in den Siebzigern hängen geblieben. Anna in der jüngeren Vergangenheit. Frau Schwermuth wischt sich die Tränen ab. Sie möchte nach Hause.
Herr Schramm spricht zuerst, als das Quartett wieder an die frische Luft kommt: »Sag mal, Johann, hast du Zigaretten?«
Johann hätte sogar welche, wäre Mu nicht dabei. Die steht vor dem kaputten Fenster, das sie mit der Zeitung verklebt hatte. Und das ist natürlich auch so was, da können wir nur hoffen, dass Frau Schwermuth es nicht bemerkt: Fast alle Scherben liegen draußen, so gut wie keine
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