Vor dem Fest
jemand, was es mit dem Kajak auf sich habe. Frau Reiff weiß es nicht. Das Kajak sei immer schon dort gewesen, und ihr gefalle das, ein Kajak in einem Apfelgarten.
Wieder andere sind angetan von der Mauer aus Feldsteinen, die den Garten begrenzt. Frau Reiff erzählt, dass sie immer dann, wenn sie eine Sorge hat, auf die Felder rausgeht, bis sie einen Stein gefunden hat, er muss ungefähr so groß sein wie ihre Sorge, und den bringt sie her und legt ihn auf die Mauer, und die Sorge ist dann schon kleiner geworden. Ein Schmied hat das vor Hunderten von Jahren auch so gemacht, das habe ihr die Archivarin mal erzählt. Sie findet es gut, dass ihre Sorgen auf den Sorgen eines Mannes stapeln, der an diesem Ort so lange vor ihr gelebt hat.
Den Stall hat Frau Reiff zu einem Ausstellungsraum umgebaut. Hellblaue Vasen, hellblaue Schalen, hellblaue Becher thronen auf Podesten, Denkmale der Fingerfertigkeit. Mal steht ein Preis dran, mal nicht. Manches ist unverkäuflich. Wir könnten jetzt behaupten: die filigransten Stücke. Aber was wissen wir schon? Frau Reiff mag die vielleicht einfach, und das ist doch prima, nicht loszulassen, was man mag.
Manchmal sitzt Frau Reiff am Fuß der Treppe, und die Kinder kommen herunter zum Trinken. Ihre Finger gleiten durch das Glas und schließen sich zur Geste des Trinkens mit nichts in der Hand. Auch Brot bietet Frau Reiff ihnen an, aber das lassen alle liegen. Alle, bis auf ein Mädchen mit gierigen Händen, die nicht greifen können. Finger für Finger, dann Arm, dann Fuß, isst das Mädchen sich stattdessen selbst auf.
Frau Reiffs Apfelkuchen schmeckt ordentlich. Sollte die Menschheit am Rande des Untergangs stehen und zum Überleben auf Selbstgemachtes angewiesen sein, die Fürstenfelder würden alle überdauern, da würdest du staunen, aber du würdest nicht lange staunen, weil wir dich überdauern würden.
Frau Reiff ist aus Düsseldorf, und das ist natürlich sehr weit weg, geographisch, aber auch sonst: Sie ist keine von uns. Wir unterscheiden wohl zwischen Zugezogenen und Alteingesessenen, wie auch sonst überall unterschieden wird, nur dass wir das nicht heimlich tun. Der Zugezogene muss sich beteiligen, muss sich engagieren und behaupten, allerdings nicht mit zu viel Elan, weil das macht uns wieder skeptisch. Kümmern muss er sich, und nicht nur günstig und schön für sich leben wollen.
Frau Reiff hat am Gehöft nichts gemacht, ohne sich mit dem Dorf zu verständigen. Sie sitzt im Gemeinderat und setzt sich für Straßenbeleuchtung mit Bewegungssensor ein. Die könnte uns viel Geld sparen. Sie findet Windmühlen genauso schön wie wir und Windräder genauso hässlich. Frau Reiff hat sich behauptet.
Zum Fest gibt es unter anderem afrikanische Harfenmusik bei Frau Reiff. Alle werden kommen, außer Rico und Luise. Wäre sie nicht eine von uns, käme nur Laufkundschaft.
Andererseits, wenn du länger darüber nachdenkst, können das gar keine Vertriebenenkinder sein. Keines blieb hier und starb hier, und wenn zum Thema Geister eins klar ist, dann das: Sie sind nicht unbedingt dafür bekannt, dort zu spuken, wo sie mal als Kinder ein paar Monate verbracht haben.
Bei den Apfelbäumen steckt tief im Boden ein Pflug, als sei er aus großer Höhe gefallen. Die Walze aus Stahl, etwas Rost. Das Dorf hat gefragt, was willst du damit. Frau Reiff hat gesagt, alles bleibt.
Im Haus sind früher Lehmböden gewesen, geheizt wurde mit einem Lehmofen. Auf dem Boden vor dem Ofen schliefen polnische Zwangsarbeiter, später deutsche Flüchtlinge. Die einen wie die anderen fingen Tauben und brieten sie. Sie waren zeitversetzt im selben Lager festgehalten worden, in Fünfeichen, nicht weit von hier. Sie schliefen unter demselben Dach, nur durch etwas Zeit und Geschichte getrennt.
Die Biografie des Pflugs kennt Frau Reiff nicht.
Eswartet ein langer Tag auf sie. Nachdem die Kinder getrunken haben, sieht sie nach dem Kater. Er huscht aus dem Garten ins Haus. Frau Reiff holt den letzten Apfelkuchen aus dem Ofen, sechs sind es für das Fest. Trinkt Wasser aus dem Hahn, die Hand zur Kuhle. Der Kater schnurrt um ihre Beine.
Raku-Keramik zeichnet sich aus durch feine Risse, die beim Abkühlen der Glasur zufällig entstehen. Sie verlaufen niemals gleich. Wie Brüche und Einschnitte in unserer Biografie, die als Brüche und Einschnitte Teil der Biografie werden. Raku-Glasuren schmelzen bei 800 °C bis 1000 °C. Frau Reiff experimentiert mit farbigen Mischtönen. Hellblau überwiegt.
IN DEN STRASSEN
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