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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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zu Hause. Hast du mit ihr gesprochen?«
    Linda wurde ärgerlich. »Sag mal, begreifst du nichts? Daß sie verschwunden ist, daß ich mir Sorgen mache, daß etwas passiert sein muß?«
    »Du weißt doch, wie sie ist.«
    »Weiß ich das? Offenbar nicht. Wie ist sie denn?«
    Zebra zog die Stirn in Falten. »Warum bist du eigentlich so genervt?«
    »Weil ich mir Sorgen mache.«
    »Was sollte denn passiert sein?«
    Linda beschloß, im einzelnen zu erzählen. Zebra hörte schweigend zu. Der Junge spielte.
    »Das hätte ich dir auch sagen können«, meinte Zebra, nachdem Linda geendet hatte. »Daß Anna religiös ist.«
    Linda sah sie groß an. »Religiös?«
    »Ja.«
    »Zu mir hat sie nie ein Wort darüber gesagt.«
    »Ihr seid euch ja erst vor kurzem wiederbegegnet, nach vielen Jahren. Außerdem ist Anna jemand, der verschiedenen Menschen verschiedene Dinge erzählt. Sie lügt viel.«
    »Wirklich?«
    »Ich hatte schon überlegt, ob ich es dir sagen sollte. Aber ich fand, es wäre besser, wenn du es selbst merkst. Anna ist eine Mythomanin. Sie kann alles mögliche erfinden.«
    »Als wir uns früher kannten, war sie nicht so.«
    »Menschen verändern sich eben, nicht wahr?«
    Linda empfand eine deutliche Ironie in Zebras letztem Kommentar.
    »Daß ich es mit Anna überhaupt aushalte, liegt daran, daß sie auch ihre guten Seiten hat«, fuhr Zebra fort. »Meistens ist sie fröhlich, sie ist nett zu dem Jungen, hilfsbereit. Aber wenn sie anfängt, ihre Geschichten zu erzählen, nehme ich sie nicht mehr ernst. Weißt du, daß sie letztes Jahr mit dir zusammen Weihnachten gefeiert hat?«
    »Da war ich doch noch in Stockholm.«
    »Sie erzählte, sie hätte dich besucht. Unter anderem hättet ihr eine Reise nach Helsinki gemacht.«
    »Aber das stimmt doch gar nicht.«
    »Nein. Aber Anna hat es gesagt. Sie hat gelogen. Warum, weiß ich nicht. Vielleicht ist es eine Art Krankheit? Oder ihre Wirklichkeit ist so langweilig, daß sie ein anderes Dasein erfinden muß.«
    Linda war sprachlos. Lange saß sie schweigend da. »Du meinst also, es könnte eine Lüge gewesen sein, daß sie ihren Vater in Malmö gesehen hat?«
    »Ich bin davon überzeugt, daß sie sich das ausgedacht hat. Es wäre so typisch für sie, plötzlich ihren Vater zu finden, der seit langem tot ist.«
    »Warum hast du mir von all dem nichts gesagt?«
    »Ich fand, du solltest von selbst darauf kommen.«
    »Du glaubst also nicht, daß Anna etwas zugestoßen ist?« Zebra sah sie belustigt an. »Was denn schon? Es ist schon früher vorgekommen, daß sie verschwunden ist. Und nachher gibt sie eine phantastische Geschichte zum besten, die natürlich nicht stimmt.«
    »Ist denn nichts von dem, was sie sagt, wahr?«
    »Die Voraussetzung dafür, daß ein Mythomane Erfolg hat, ist, daß er oder sie eine Lüge präsentiert, die zum größten Teil aus einer Wahrheit besteht. Dann geht sie durch, und wir glauben sie. Bis wir erkennen, daß der Lügner in einer Welt lebt, die ganz und gar zusammengedichtet ist.«
    Linda schüttelte ungläubig den Kopf. »Und ihr Medizinstudium?«
    »Davon glaube ich kein Wort.«
    »Aber woher hat sie das Geld? Was tut sie?«
    »Das habe ich mich auch gefragt. Manchmal habe ich sogar gedacht, daß sie vielleicht eine Gaunerin ist, die Menschen um ihr Geld betrügt. Aber ich weiß nicht.«
    Der Junge im Sandkasten rief nach seiner Mama. Linda folgte Zebra mit dem Blick, als sie zu ihm lief. Ein Mann, der vorüberging, sah sich nach ihr um. Linda dachte über Zebras Worte nach. Aber das erklärt nicht alles, sagte sie sich. Es erklärt einen Teil, es verringert meine Sorge und empört mich, weil mir klar wird, daß Anna mir etwas vorgemacht hat. Ich mag es nicht, wenn Menschen behaupten, sie wären mit mir zusammen nach Helsinki gefahren. »Vieles findet seine Erklärung«, sagte sie laut zu sich selbst. »Aber nicht alles.«
    Zebra kam zurück. »Was hast du gesagt?«
    »Ich habe nichts gesagt.«
    »Du hast hier gesessen und laut mit dir selbst geredet. Ich habe es bis zum Sandkasten gehört.«
    »Du mußt verstehen, daß ich ziemlich durcheinander bin.«
    »Hattest du nichts gemerkt?«
    »Nein. Aber jetzt verstehe ich.«
    »Ich finde, du solltest Anna erzählen, daß du dir Sorgen gemacht hast. Ich glaube, ich selbst werde sie eines Tages nicht mehr ertragen können. Ich werde von ihr verlangen, daß sie anfängt, die Wahrheit zu sagen. Dann wird sie sich zurückziehen. Ihre letzte Lüge wird dann sein, daß ich diejenige war, die sich ihr

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