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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Oder vielleicht war es, weil ich an den alten und strengen Ansprüchen festhielt. Ich konnte nicht tolerieren, daß gepfuscht wurde.«
    Er unterbrach sich wieder und begann, mit einer Fliegenklatsche, die zwischen den Notenheften lag, nach einer Fliege zu schlagen. Er jagte im Zimmer umher, als dirigiere er mit seiner Klatsche ein unsichtbares Orchester oder einen unsichtbaren Chor.
    Dann setzte er sich wieder. Ohne daß er es merkte, ließ sich die Fliege auf seiner Stirn nieder.
    Eine lästige Fliege, dachte Linda. So sieht das Alter aus.
    »Ich habe Ihren Namen im Tagebuch meiner Freundin gefunden«, wiederholte sie.
    Sie hatte seine Hand gefaßt und spürte, daß seine Finger, die gierig nach ihren griffen, stark waren.
    »Anna Westin, nicht wahr?«
    »Ja.«
    »Ich habe nie eine Schülerin dieses Namens gehabt. Ich bin alt und vergeßlich. Aber an die Namen meiner Schüler will ich mich erinnern. Die gaben diesem Leben eine Art Sinn, nachdem Mariana ins Reich der Götter aufstieg.«
    Linda wußte nicht mehr, wonach sie noch fragen sollte. Eigentlich gab es nur eins. »Torgeir Langaas«, sagte sie. »Ich suche einen Mann dieses Namens.«
    Jetzt war er wieder abwesend. Mit der freien Hand schlug er am Flügel ein paar Töne an.
    »Torgeir Langaas«, sagte sie noch einmal. »Ein Norweger.«
    »Ich habe viele norwegische Schüler gehabt. Am besten erinnere ich mich an einen bemerkenswerten Mann, der Trond 0rje hieß. Er kam aus Rauland und hatte einen wunderbaren Bariton. Aber er war so unglaublich schüchtern, daß er nur im Plattenstudio singen konnte. Er war der bemerkenswerteste Bariton und der bemerkenswerteste Mann, der mir je begegnet ist. Er weinte vor Entsetzen, als ich sagte, daß er begabt sei. Ein sehr bemerkenswerter Mann. Andere dagegen.«
    Er erhob sich heftig. »Es ist einsam, das Leben. Die Musik und die Meister, die sie schrieben, und die Fliegen. Und noch der eine oder andere Schüler. Ansonsten gehe ich in dieser Welt umher und sehne mich nach Mariana. Sie starb zu früh. Ich habe solche Angst, daß sie es müde wird, auf mich zu warten. Ich habe zu lange gelebt.«
    Linda stand auf. Sie wußte, daß sie nie eine vernünftige Antwort aus ihm herausbekommen würde. Noch unbegreiflicher war es jetzt auch, daß Anna Kontakt mit ihm gehabt haben sollte.
    Sie verließ das Zimmer, ohne sich zu verabschieden. Als sie zum Flur ging, hörte sie ihn spielen. Sie warf einen Blick in die anderen Zimmer. Es war unaufgeräumt und roch muffig. Ein alter Mann mit seiner Musik, dachte sie. Wie Großvater mit seinen Bildern. Was werde ich haben, wenn ich alt bin? Was wird Vater haben? Und Mutter? Eine Flasche Schnaps?
    Im Flur griff sie nach ihrer Jacke. Die Klänge des Flügels erfüllten die Wohnung. Sie stand unbeweglich da und betrachtete die Kleider, die im Flur hingen. Ein einsamer alter Mann. Doch da waren eine Jacke und ein Paar Schuhe, die keinem alten Mann gehörten. Sie blickte zurück in die Wohnung. Sie war leer. Aber Linda wußte bereits, daß Frans Vigsten in der Wohnung nicht allein war. Da war noch jemand.
    Die Angst überkam sie so schnell, daß sie zusammenzuckte.
    Die Musik verstummte. Sie lauschte. Dann verließ sie hastig die Wohnung. Sie lief über die Straße und fuhr davon, so schnell sie konnte. Erst als sie über die Öresundbrücke fuhr, wurde sie wieder ruhig.
    Zur gleichen Zeit, als Linda über die Brücke fuhr, brach ein Mann in die Tierhandlung in Ystad ein und übergoß die Vogel- und Kleintierkäfige mit Benzin. Er warf ein brennendes Streichholz auf den Fußboden und verließ den Laden, während hinter ihm die Tiere in den Flammen verendeten.

Teil 3
DAS TAU
    Er wählte die Orte für die Zeremonien immer mit großer Sorgfalt aus. Das hatte er auf seiner Flucht gelernt oder, besser gesagt, bei seinem einsamen Auszug aus Jonestown. Wo wählte er seinen Ruheplatz, an welchen Orten konnte er sich sicher fühlen? Damals gab es in seiner Welt keine Zeremonien. Die kamen erst später hinzu, als er Gott wiedergefunden hatte, der ihm endlich helfen konnte, die Leere zu füllen, die ihn von innen heraus aufzuzehren drohte.
    Zu dieser Zeit, als er schon in Cleveland gewesen war und viele Jahre lang mit Sue-Mary zusammengelebt hatte, begann sein ständiges Suchen nach Orten, an denen er sich sicher fühlte, sich zu einem Teil der Religion zu entwickeln, die er sich jetzt schuf. Die Zeremonien wurden seine Begleiter, eine Art tägliches Taufbecken, in das er seine Stirn tauchen und sich

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