Vor dem Frost
gegenüber schäbig verhalten hat.«
Der Junge verlor die Lust am Spielen. Sie gingen ein paar Runden im Park.
»Wie viele Tage noch?« fragte Zebra.
»Sechs«, antwortete Linda. »Dann fange ich an zu arbeiten.«
Als sie sich getrennt hatten, ging Linda hinunter ins Zentrum und holte sich Geld an einem Automaten. Sie war sparsam und immer ängstlich, in eine Situation zu geraten, in der sie ohne Geld dastand. Ich bin wie mein Vater, dachte sie. Wir sind beide sparsam und geizig.
Sie ging nach Hause, putzte die Wohnung und rief dann das Unternehmen an, das ihr eine Wohnung versprochen hatte. Nach mehreren Versuchen gelang es ihr endlich, den Mann an den Apparat zu bekommen, der ihren Fall bearbeitete. Sie fragte, ob es möglich sei, früher als geplant einzuziehen. Doch die Antwort war negativ. Sie legte sich in ihrem Zimmer aufs Bett und dachte über das nach, was Zebra gesagt hatte. Ihre Sorge um Anna hatte sich verflüchtigt. Dagegen ärgerte sie sich darüber, sie nicht durchschaut zu haben. Aber was hätte sie eigentlich sehen sollen? Wie entdeckt man, daß ein Mensch lügt? Nicht über etwas Besonderes, sondern über ganz alltägliche Dinge.
Sie ging hinaus in die Küche und rief bei Zebra an. »Ich habe gar nicht zu Ende gefragt wegen Annas Religiosität.«
»Warum sprichst du nicht mit ihr selbst, wenn sie zurückkommt? Anna glaubt an Gott.«
»Welchen Gott?«
»Den christlichen. Sie geht manchmal in die Kirche. Sagt sie. Aber sie betet, das glaube ich ihr. Ich habe sie ein paarmal beim Beten angetroffen. Sie kniet nieder und betet.«
»Weißt du, ob sie irgendeiner Gemeinde angehört? Oder einer Sekte?«
»Nein. Tut sie das?«
»Ich weiß es nicht. Habt ihr viel hierüber gesprochen?«
»Sie hat es ein paarmal versucht. Aber ich habe sie gebremst. Gott und ich haben nie ein gutes Verhältnis miteinander gehabt.«
Ein gräßliches Geschrei dröhnte durchs Telefon.
»Aua. Jetzt hat er sich weh getan. Tschüß.«
Linda ging zurück zum Bett und starrte weiter an die Decke. Was weiß man über Menschen? In ihren Gedanken stand Anna vor ihr. Aber sie schien eine vollkommen fremde Person zu sein. Mona war auch da, ohne Kleider und mit einer Flasche in der Hand. Linda setzte sich im Bett auf. Ich bin von Verrückten umgeben, dachte sie. Der einzig völlig Normale ist Vater.
Sie trat auf den Balkon. Es war noch immer warm. Ich nehme mir hier und jetzt vor, mir keine Sorgen mehr um Anna zu machen, sagte sie zu sich selbst. Ich sollte lieber das schöne Wetter genießen.
In der Zeitung las sie über die Ermittlung im Mordfall Birgitta Medberg. Ihr Vater äußerte sich. Sie hatte die gleichen Wendungen schon dutzendmal gelesen.
Keine sicheren Spuren, Vorgehen auf breiter Front, braucht seine Zeit.
Sie warf die Zeitung zur Seite und dachte an den Namen in Annas Tagebuch.
Vigsten.
Die zweite Person im Tagebuch, die Lindas Spur kreuzte. Die erste war Birgitta Medberg gewesen.
Noch einmal, dachte sie. Eine Fahrt über die Brücke. Es ist viel zu teuer. Aber eines Tages werde ich das Geld von Anna zurückverlangen. Als Entschädigung für all die Sorgen, die sie mir bereitet hat.
Diesmal werde ich nicht im Dunkeln in der Nedergade umherlaufen, dachte sie, als sie über die Brücke nach Kopenhagen fuhr. Ich werde den Mann – wenn es denn ein Mann ist – namens Vigsten aufsuchen und ihn fragen, ob er weiß, wo Anna ist. Mehr nicht. Dann fahre ich nach Hause und mache meinem Papa Essen.
Sie parkte an der gleichen Stelle wie beim vorigen Mal und fühlte sich unwohl, als sie aus dem Wagen stieg. Sie hatte bis jetzt die Tatsache verdrängt, daß sie hier am Vortag niedergeschlagen worden war.
Als diese Einsicht sie jetzt überfiel, setzte sie sich wieder ins Auto und verriegelte die Türen. Ganz ruhig, dachte sie. Ich steige aus, niemand ist da, der mich angreift. Ich gehe rein und suche den Mieter, der Vigsten heißt.
Sie redete sich ein, ganz ruhig zu sein, aber sie lief über die Straße. Ein Radfahrer kam ins Schlingern und rief ihr etwas nach. Die Tür ging auf, als sie dagegen drückte. Sie sah den Namen sofort. Im dritten Stock des Vorderhauses. F. Vigsten. Der Anfangsbuchstabe des Vornamens war in ihrer Erinnerung falsch gewesen. Sie machte sich auf den Weg die Treppen hinauf. Was für Musik hatte sie zuletzt gehört? Lateinamerikanische. Jetzt war alles sehr still. Frederik Vigsten, dachte sie. In Dänemark heißt man Frederik. Wenn man ein Mann ist. Sonst vielleicht Frederike. Sie blieb stehen
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