Vor dem Frost
Hedtoft bestätigt diese Beschreibung. Aber du kannst das mit der Drohung mißverstanden haben.«
Linda schüttelte den Kopf. »Er hat mich bedroht. Er sprach von dem Mann, nach dem ich suchte, Torgeir Langaas.«
»Irgendwie muß ein Mißverständnis vorliegen.«
»Was für ein Mißverständnis? Ich weiß, was ich sage. Und ich bin mehr und mehr überzeugt, daß Anna etwas passiert ist.«
»Dann gib eine Vermißtenmeldung auf. Rede mit ihrer Mutter. Warum macht sie keine Anzeige?«
»Ich weiß es nicht.«
»Müßte sie sich nicht Sorgen machen?«
»Ich weiß nicht, was da läuft. Ich weiß nicht, warum sie sich keine Sorgen macht. Ich weiß nur, daß Anna wahrscheinlich in Gefahr ist.«
Stefan Lindman ging zum Flur. »Mach eine Meldung. Und laß uns die Sache in die Hand nehmen.«
»Aber ihr tut ja nichts.«
Stefan Lindman stoppte abrupt. Er war verärgert, als er antwortete. »Wir arbeiten Tag und Nacht. An einem richtigen Mord. Außerdem einem richtig abscheulichen Mord. Von dem wir nichts begreifen.«
»Dann sind wir in der gleichen Situation«, erwiderte sie ruhig. »Ich habe eine Freundin, die Anna heißt und die nicht zu Hause ist, wenn ich bei ihr anrufe oder an ihre Tür klopfe. Das begreife ich nicht.«
Linda machte die Tür auf. »Vielen Dank, daß du jedenfalls etwas von dem, was ich gesagt habe, geglaubt hast.«
»Unter uns. Es gibt keinen Grund, etwas hiervon deinem Vater zu erzählen.«
Er lief die Treppe hinab. Linda frühstückte hastig, zog sich an und rief Zebra an. Sie meldete sich nicht. Linda fuhr in Annas Wohnung. Diesmal sah sie keine Spuren, daß jemand dagewesen war. Wo bist du, rief Linda bei sich. Du hast vieles klarzustellen, wenn du wiederkommst.
Sie öffnete ein Fenster, zog einen Stuhl heran und holte Annas Tagebuch. Irgendeine Spur mußte sich finden, dachte sie. Die erklären kann, was passiert ist.
Sie fing an zu lesen und blätterte einen Monat zurück. Plötzlich stutzte sie. Da stand ein Name im Tagebuch, am Rand, hingeworfen wie eine Notiz, um sich zu erinnern. Linda furchte die Stirn. Sie kannte den Namen. Sie hatte ihn kürzlich erst gesehen. Oder hatte sie ihn gehört? Sie legte das Tagebuch zur Seite. In der Ferne begann ein Gewitter zu grollen. Die Hitze war drückend. Ein Name, den sie gesehen oder gehört hatte. Die Frage war nur, wo oder von wem? Sie machte Kaffee und versuchte, ihre Gedanken abzulenken, um ihrem Gedächtnis so zu entlocken, wo der Name ihr schon begegnet war. Nichts geschah.
Erst als sie schon aufgeben wollte, fiel ihr ein, wo sie auf den Namen gestoßen war.
Es war keine vierundzwanzig Stunden her. Auf einer Namentafel in einem dänischen Mietshaus.
Vigsten.
Sie wußte, daß sie sich nicht irrte. Der Name hatte auf der Namentafel im Hauseingang in der Nedergade gestanden. Ob es das Vorderhaus oder das Hinterhaus war, wußte sie nicht, aber des Namens war sie sich sicher. Vielleicht hatte ein D oder ein O davorgestanden. Aber der Nachname war Vigsten. Was tue ich jetzt, dachte sie. Ich arbeite mich vor bis zu dem Punkt, an dem tatsächlich etwas zusammenhängt. Aber ich bin die einzige, die es ernst nimmt, es gibt niemanden, den ich überzeugen könnte, daß dies hier in eine bestimmte Richtung weist. Doch welche Richtung? Von neuem spürte sie die nagende Angst. Anna hatte geglaubt, ihren Vater zu sehen, und danach war sie verschwunden. Der Gedanke ließ ihr keine Ruhe. Zuerst kehrt ein seit langem verschwundener Vater zurück, anschließend verschwindet seine Tochter. Zwei Verschwinden, die sich decken, die sich aufheben oder sich ergänzen. Sie fühlte plötzlich, daß sie ihre Gedanken mit jemandem teilen mußte. Es gab niemanden außer Zebra. Sie lief die Treppen in Annas Haus hinunter und fuhr zu Zebra, die gerade mit ihrem Sohn das Haus verließ. Linda begleitete sie zu einem Spielplatz in der Nähe. Der Junge machte sich auf den Weg zum Sandkasten. Daneben stand eine Bank, die aber verschmutzt und voller Kaugummis war. Sie setzten sich auf die äußerste Kante. Der Junge warf mit Sand um sich, voller Begeisterung. Linda sah Zebra an und wurde wie üblich neidisch: Zebra war ganz unverschämt schön; sie hatte etwas Arrogantes und Lockendes an sich. Linda hatte einst davon geträumt, eine Frau zu werden, wie Zebra eine war. Aber ich bin Polizistin geworden, dachte sie. Eine Polizistin, die hofft, daß sie sich nicht im Innersten als Angsthase erweist.
»Anna«, sagte Zebra. »Ich habe versucht, sie anzurufen. Aber sie war nicht
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