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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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und atmete tief durch, als sie den dritten Stock erreichte. Dann klingelte sie an der Tür. Aus dem Flur dahinter erklang ein Glockenspiel. Sie wartete und zählte langsam bis zehn. Dann klingelte sie noch einmal. Im selben Moment ging die Tür auf. Ein alter Mann mit gesträubtem Haar und einer Brille an einer Schnur um den Hals musterte sie streng. »Ich kann nicht schneller gehen«, sagte er. »Warum haben junge Menschen heutzutage keine Geduld?«
    Ohne nach ihrem Namen oder Anliegen zu fragen, trat er zur Seite und zog sie beinah in den Flur. »Ich muß vergessen haben, daß sich eine neue Schülerin angemeldet hat. Aber ich führe mein Journal nicht mehr so sorgfältig, wie ich es tun müßte. Bitte legen Sie ab. Ich bin im hinteren Zimmer.«
    Er entfernte sich mit kurzen, fast hüpfenden Schritten den langen Flur hinunter. Schülerin, dachte Linda. Worin denn? Sie hängte ihre Jacke auf und folgte dem Mann, der nicht mehr zu sehen war. Die Wohnung war weitläufig. Linda bekam den Eindruck, daß sie mit einer zweiten Wohnung zusammengelegt worden sein mußte. Im letzten Zimmer stand ein schwarzer Flügel.
    Der weißhaarige Mann stand an einem kleinen Tisch neben dem Fenster und blätterte in einem Kalender. »Ich finde keine Schülerin«, sagte er klagend. »Wie heißen Sie?«
    »Ich bin keine Schülerin. Ich möchte Ihnen nur ein paar Fragen stellen.«
    »Ich habe mein ganzes Leben Fragen beantwortet«, sagte der Mann, der nach Lindas Meinung Vigsten sein mußte. »Ich habe darauf geantwortet, warum es so wichtig ist, richtig zu sitzen, wenn man Klavier spielt. Ich habe versucht, jungen Pianisten zu erklären, warum nicht jeder lernen kann, Chopin mit der erforderlichen Kombination von Behutsamkeit und Kraft zu spielen. Aber vor allem habe ich versucht, unzählige Opernsänger dazu zu bringen, ordentlich zu stehen und nicht zu versuchen, die schwierigsten Partien ohne ordentliche Schuhe an den Füßen zu singen. Ist Ihnen das klar? Das wichtigste für einen Opernsänger sind gute Schuhe. Und für einen Pianisten, daß er keine Hämorrhoiden hat. Wie ist Ihr Name?«
    »Ich heiße Linda und bin weder Pianistin noch Opernsängerin. Ich bin hier, um etwas zu fragen, was nichts mit der Musik zu tun hat.«
    »Dann sind Sie hier falsch. Ich kann nur auf Fragen antworten, die mit Musik zu tun haben. Die Welt im übrigen ist mir völlig unbegreiflich.«
    Linda war verwirrt von dem Mann, der seinerseits nicht vollkommen klar im Kopf zu sein schien. »Heißen Sie Frederik Vigsten?«
    »Nicht Frederik, sondern Frans. Aber der Nachname ist richtig.«
    Er hatte sich auf einen Klavierhocker gesetzt und blätterte in einem Notenheft. Linda hatte das Gefühl, daß er sie dann und wann völlig vergaß. Als befinde sie sich nur kurze Augenblicke im Raum.
    »Ich habe Ihren Namen in Anna Westins Tagebuch gefunden«, sagte sie.
    Er trommelte rhythmisch mit einem Finger in dem Notenheft und schien sie nicht zu hören.
    »Anna Westin«, wiederholte sie, jetzt mit lauterer Stimme.
    Er blickte rasch zu ihr auf. »Wer?«
    »Anna Westin. Eine Schwedin mit Namen Anna Westin.«
    »Ich hatte früher viele schwedische Schüler«, sagte Frans Vigsten. »Jetzt kommt es mir vor, als hätten mich alle vergessen.«
    »Denken Sie doch einmal nach. Anna Westin.«
    »Es sind so viele Namen«, antwortete er träumerisch. »So viele Namen, so viele wunderbare Augenblicke, wenn die Musik wirklich zu singen begonnen hat. Können Sie das verstehen? Daß die Musik zum Singen gebracht werden muß. Das haben nicht viele verstanden. Bach, der alte Meister, der hat es verstanden. Es war Gottes Stimme, die in seiner Musik sang. Und Mozart und Verdi und vielleicht sogar der eher unbekannte Roman brachten zwischendurch die Musik zum Singen…«
    Er unterbrach sich und sah Linda an. »Haben Sie mir Ihren Namen gesagt?«
    »Ich sage ihn gern noch einmal. Ich heiße Linda.«
    »Und Sie sind keine Schülerin? Nicht Pianistin, nicht Opernsängerin?«
    »Nein.«
    »Sie fragen nach einer Anna?«
    »Anna Westin.«
    »Ich kenne keine Anna Westin. Meine Frau dagegen war eine Vestalin. Aber sie starb vor neununddreißig Jahren. Können Sie verstehen, was es bedeutet, fast vierzig Jahre lang Witwer zu sein?«
    Er streckte seine dünne Hand mit den feinen blauen Adern aus und rührte an ihr Handgelenk. »Allein«, wiederholte er. »Es ging gut, solange ich meine tägliche Arbeit als Repetitor an der Königlichen Oper hatte. Und eines Tages fanden sie, daß ich zu alt sei.

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