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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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vorbereiten konnte, um die Botschaften zu empfangen, die Gott ihm sandte, sowie die Instruktionen für die Aufgabe, die ihn erwartete. Es war jetzt noch wichtiger geworden, daß er keine Fehler beging bei der Auswahl der Orte, an denen seine Helfer auf ihre Aufgaben vorbereitet werden sollten.
    Bis jetzt war es auch gutgegangen. Bis zu dem unglücklichen Vorfall, als eine einsame Frau eins ihrer Verstecke gefunden hatte und von seinem ersten Jünger, Torgeir, erschlagen worden war.
    Ich habe Torgeirs Schwäche nie ganz erkannt, dachte er. Der verwöhnte Reederssohn, den ich in Cleveland aus der Gosse aufgelesen habe, hatte ein Temperament, das unter Kontrolle zu bringen mir nie ganz gelungen ist. Ich erwies ihm Milde und eine unendliche Geduld. Ich ließ ihn reden und hörte ihm zu. Aber es steckte eine Wut tief in seinem Innern, eine Wut hinter verschlossenen Türen, die ich nicht zu entdecken vermochte.
    Er hatte versucht, Torgeir eine Erklärung abzuverlangen. Warum er von dieser besinnungslosen Raserei gepackt worden war, als die Frau den Pfad entlanggekommen war und seine Tür geöffnet hatte. Sie hatten darüber gesprochen, daß dies passieren konnte, nichts war unmöglich, ein noch so selten benutzter Pfad konnte eines Tages wieder in Gebrauch genommen werden. Sie mußten stets darauf gefaßt sein, daß das Unerwartete eintraf. Torgeir hatte ihm keine Antwort geben können. Er hatte Torgeir gefragt, ob er von einer plötzlichen Angst befallen worden sei. Aber er erhielt keine Antwort. Es gab keine Antwort. Nur die Einsicht, daß Torgeir sein Leben nicht ganz in seine Hand gelegt hatte. Sie waren übereingekommen, daß unerwartete Begegnungen mit Unbekannten in der Nähe ihrer Verstecke in Freundlichkeit abgewickelt werden sollten. Danach sollte das Versteck bei der nächsten Gelegenheit aufgegeben werden. Torgeir hatte den entgegengesetzten Weg gewählt. Ein Kurzschluß in seinem Gehirn. Anstatt Freundlichkeit zu zeigen, hatte er in einem Anfall besinnungsloser Gewalt zu einer Axt gegriffen. Warum er die Frau zerteilt hatte, konnte er nicht beantworten, ebensowenig, warum er ihren Kopf aufbewahrt und ihre Hände wie zum Gebet gefaltet hatte. Danach hatte er die übrigen Körperteile zusammen mit Steinen in einen Sack gepackt, hatte sich ausgezogen und war mit dem Sack auf den nächsten Waldsee hinausgeschwommen und hatte ihn dort auf den Grund sinken lassen.
    Torgeir war stark, das war eine seiner ersten Erfahrungen mit ihm, als er in einem der schlimmsten Slums von Cleveland über den in der Gosse liegenden Mann gestolpert war. Er wollte schon weitergehen, als er zu hören meinte, daß der wimmernde Mann etwas lallte. Er war stehengeblieben und hatte sich hinabgebeugt. Es klang wie Dänisch oder Norwegisch. Da hatte er verstanden, daß Gott ihm diesen Mann in den Weg gelegt hatte. Torgeir Langaas war dem Tod nah gewesen. Der Arzt, der ihn später untersuchte und das Rehabilitierungsprogramm aufstellte, das notwendig war, hatte sich sehr deutlich ausgedrückt. In Torgeir Langaas' Körper war kein Platz mehr für Alkohol oder Drogen. Seine gute Physis hatte ihn gerettet. Aber jetzt arbeiteten seine Organe mit den letzten Kraftreserven. Sein Gehirn war vielleicht beeinträchtigt. Es war nicht sicher, daß sich seine umfangreichen Erinnerungslücken wieder schließen würden.
    Er erinnerte sich noch immer an jenen Augenblick auf der Straße in Cleveland. An den Tag, an dem ein norwegischer Pennbruder mit Namen Torgeir Langaas zu ihm aufsah mit Augen, die so blutunterlaufen waren, daß die Pupillen leuchteten wie bei einem wütenden Hund. Doch nicht der Blick war das Wichtige gewesen, sondern das, was er gesagt hatte. In Torgeir Langaas' verwirrtem Geist war es Gott, der sich über ihn beugte. Er hatte mit einer seiner mächtigen Hände seine Jacke ergriffen und seinen gräßlichen Atem geradewegs in das Gesicht des neuen Erlösers gerichtet.
    »Bist du Gott?« hatte er gefragt.
    Nach einem kurzen Augenblick, in dem sich alles, was bisher unklar gewesen war in seinem Leben – alle seine Niederlagen, aber auch Träume und Hoffnungen –, wie in einem einzigen Punkt sammelte, hatte er geantwortet: »Ja, ich bin dein Gott.«
    Im nächsten Augenblick waren ihm Zweifel gekommen. Der erste Jünger konnte wohl einer der Verworfensten sein. Aber wer war dieser Mann? Wie war er hier gelandet?
    Er war davongegangen und hatte Torgeir Langaas zurückgelassen – er kannte damals noch nicht seinen Namen, wußte nur, daß er

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