Vor dem Frost
ein norwegischer Alkoholiker war, der aus irgendeinem Grund in einer schmutzigen Straße in Cleveland in der Gosse gelandet war. Aber seine Neugier war nicht verflogen. Am Tag danach war er in den Slum zurückgekehrt. Es war wie ein Abstieg in die Hölle, dachte er. Um ihn her krochen die Verdammten, die hoffnungslos Verlorenen. Er hatte nach dem Mann gesucht, war mehrmals fast überfallen und beraubt worden, doch schließlich hatte ein alter Mann mit einer eitrigen und stinkenden Wunde an der Stelle, wo einst sein rechtes Auge gewesen war, ihm Auskunft geben können, daß ein Norweger mit großen Händen in einen verrosteten Brückenpfeiler zu kriechen pflegte, wo er Schutz suchte gegen Regen und Schnee. Und dort fand er ihn. Torgeir Langaas schlief, er schnarchte, er stank, sein Gesicht war von Wunden und entzündeten Beulen übersät. Aus der Jacke zog er eine kleine gefaltete Plastikhülle, in der Torgeir Langaas seinen roten norwegischen Paß aufbewahrte, der vor sieben Jahren abgelaufen war. In der Zeile, die den Beruf angab, stand
skipsreder.
Schiffsreeder. Das stachelte seine Neugier weiter an. Und sie wurde nicht geringer dadurch, daß in der Plastikhülle auch ein Bankausweis steckte. Er schob die Dokumente zurück, nachdem er sich die Nummer des Passes notiert hatte, und verließ den Brückenpfeiler.
Sue-Mary hatte einen Bruder namens Jack, der ein seltsames Doppelleben führte. Er war in seiner Freizeit Sonntagsschullehrer, verkaufte als Angestellter einer der angesehensten Maklerfirmen Clevelands Häuser und verwandte im übrigen seine Zeit darauf, für die ortsansässige Ganovenschaft alle möglichen Dokumente zu fälschen. Am nächsten Tag suchte er Jack in der Sonntagsschule auf und fragte ihn, ob er ihm helfen könne, ein paar Informationen über einen Norweger zu beschaffen, der ihm über den Weg gelaufen war.
»Ich versuche, einem in Not geratenen Bruder zu helfen«, sagte er.
»An Paßauskünfte von europäischen Botschaften ist schwer heranzukommen«, sagte Jack. »Gerade deshalb ist es eine Herausforderung.«
»Ich werde dich natürlich bezahlen.«
Jack lachte. Seine Zähne waren so weiß, daß sie fast ihren Glanz verloren hatten und zu Kreide geworden waren. »Von Sue-Marys Mann nehme ich kein Geld«, gab er zurück. »Auch wenn ich der Meinung bin, ihr solltet heiraten. Die Sünde wird weder größer noch kleiner dadurch, daß sie von Jahr zu Jahr weitergeht. Sie ist immer gleich verwerflich.«
Drei Wochen später kam Jack mit verblüffenden Auskünften. Wie er sie erhalten hatte, fragte er nicht.
»Die Herausforderung war wohltuend. Besonders als es mir gelungen war, alle Kodes zu knacken und mir Zugang zu den geheimsten Räumen des Königreichs Norwegen zu verschaffen.«
Er erinnerte sich noch immer daran, wie er auf dem Weg zum Sessel vor dem offenen Kamin, wo er mit seinen Gedanken und seinen Büchern zu sitzen pflegte, den Brief geöffnet hatte. Er ließ sich in den Sessel sinken und begann, die Papiere zu überfliegen. Doch er hielt sogleich inne, machte die Leselampe an, obwohl es erst früher Nachmittag war, und las dann die fragmentarische, aber dennoch sehr deutliche Biographie des Torgeir Langaas sorgfältig durch.
Er war 1948 in B^rum als Erbe der großen LangaasReederei geboren, die sich auf Öl- und Autotransporte spezialisiert hatte. Die Langaas-Reederei war nach einem Konflikt als Ableger der traditionsreichen Refsvold-Reederei entstanden. Woher Torgeir Langaas' Vater, Kapitän Anton Helge Langaas, der, nachdem er das Reedereiwesen von verschiedenen Kommandobrücken aus studiert hatte und dann an Land gegangen war, das Kapital und den großen Aktienposten hatte, die einen widerwilligen Vorstand der Refsvold-Reederei zwangen, ihm einen Sitz im Vorstand einzuräumen, war nicht bekannt. Im Verlauf des Konflikts verbreitete die Familie Refsvold das Gerücht, Anton Helge Langaas' Kapital stamme aus widerwärtigen Geschäften mit den Nazis. Es wurde von illegalen Fluchtwegen gemunkelt, über die Naziverbrecher sich mit U-Booten in Sicherheit brachten, die nachts den La-Plata-Sund zwischen Argentinien und Uruguay anliefen und dort ihre Fracht von KZ-Kommandanten und Folterern löschten. Aber es ließ sich nichts beweisen, und die Familie Refsvold hatte auch ihre Leichen im Keller gehabt.
Anton Helge Langaas hatte erst geheiratet, als er meinte, seine Reederei, die eine rotgrüne Flagge mit dem Bild eines fliegenden Fischs führte, sei hinreichend etabliert und
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