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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Anwesenheit im selben Moment vergessen, in dem er sich umdrehte.
    Torgeir Langaas betrachtete seine Hände. Sie waren groß und kräftig. Aber das wichtigste war, daß die Finger nicht mehr zitterten. Es waren viele Jahre vergangen, seit er aus der Gosse emporgehoben wurde, und danach hatte er nie wieder einen Tropfen Alkohol getrunken oder irgendwelche Drogen genommen. Er hatte nur eine vage Erinnerung an die Zeit, als er langsam wieder ins Leben zurückkehrte. Es waren groteske Tage und Nächte mit Wahnvorstellungen gewesen, Ameisen, die ihn unter der Haut bissen, Eidechsen mit bedrohlichen Gesichtern, die aus den Tapeten an den Wänden krochen. Die ganze Zeit war Erik dagewesen und hatte ihn unter den Armen gehalten. Torgeir wußte, daß er ohne Erik verloren gewesen wäre. Durch ihn hatte er den Glauben bekommen, der die Kraft war, die er brauchte, um zu leben.
    Er setzte sich im Bett auf und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Der Klavierstimmer würde bald fertig sein. Frans Vigsten würde ihn in den Flur begleiten und, noch bevor die Wohnungstür zuschlug, vergessen haben, daß er dagewesen war.
    Die Kraft, dachte er. Sie ist mein. Ich warte in meinen verschiedenen Verstecken, um meine Befehle entgegenzunehmen. Ich führe sie aus und gehe zurück in die Unsichtbarkeit. Erik weiß nie genau, wo ich bin, aber ich höre seine Stimme in meinem Innern, wenn er mich braucht. Ich weiß immer, wann er will, daß ich Kontakt zu ihm aufnehme.
    All diese Kraft, die ich von Erik bekommen habe, dachte er. Und nur von einer kleinen Schwäche habe ich mich noch nicht befreien können. Deshalb empfand er auch ein Gefühl von Scham darüber, daß er noch immer ein Geheimnis vor Erik hatte. Zu ihm, dem Mann aus der Gosse, hatte der Prophet ganz offen gesprochen. Er hatte nichts von sich selbst verborgen, und das gleiche hatte er von ihm verlangt, der sein erster Jünger werden sollte. Als Erik ihn gefragt hatte, ob er jetzt frei sei von allen Geheimnissen und Schwächen, hatte er ja gesagt. Aber das stimmte nicht. Es gab noch immer ein Verbindungsglied zu dem Leben, das er früher gelebt hatte. Bis zuallerletzt hatte er die Entscheidung, die ihm bevorstand, aufgeschoben. Als er an diesem Morgen erwachte, wußte er, daß er sie jetzt nicht mehr weiter aufschieben konnte. Der brennende Laden am Abend zuvor war der letzte Schritt gewesen, bevor er auf die höhere Ebene gehoben wurde. Jetzt konnte er nicht länger warten. Wenn Erik seine Schwäche nicht entdeckte, würde Gott ihm seinen Zorn entgegenschleudern. Der Zorn würde auch Erik treffen, und der Gedanke war unerträglich.
    Der Klavierstimmer war fertig. Torgeir wartete, bis er die Wohnungstür zuschlagen hörte. Kurz darauf begann Frans Vigsten zu spielen. Eine Mazurka von Chopin, konnte er hören. Frans Vigsten spielte, ohne auch nur einen Blick auf irgendwelche Noten zu werfen. Tief in der großen Verwirrung leuchtete das Licht der Musik noch unvermindert stark. Torgeir Langaas dachte, daß Erik recht hatte. Gott hatte die Musik als die größte geistige Versuchung geschaffen. Nur wenn die Musik tot war, konnte der Mensch ganz in den Vorbereitungen für das Leben aufgehen, das jenseits der bemessenen Erdenzeit wartete. Er lauschte. Vage erinnerte er sich, wie er als Kind in Oslo zu einem Klavierkonzert in der Aula der Universität mitgegangen war. Gerade diese Mazurka war eine von zwei Zugaben gewesen. Er erinnerte sich sogar an die erste, Mozarts Türkischen Marsch. Er war mit seinem Vater im Konzert gewesen, und hinterher war er gefragt worden, ob er je etwas Schöneres gehört habe. Die Macht der Musik ist groß, dachte er. Gott ist raffiniert in seiner Kunst, Versuchungen zu schaffen. Eines Tages werden tausend Klaviere aufeinandergestapelt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden. Die Saiten werden reißen, die Töne verstummen.
    Er stand auf und kleidete sich an. Durchs Fenster sah er, daß es bewölkt und windig war. Er zögerte, ob er die Lederjacke oder den langen Mantel nehmen sollte, entschied sich aber für die Lederjacke und verließ die Wohnung. In den Taschen fühlte er die Federn von Tauben und Schwänen, die er von den Straßen, durch die er ging, aufgelesen hatte. Das Aufsammeln von Federn ist vielleicht auch eine Schwäche, dachte er. Aber eine Schwäche, die Gott mir verzeiht. Als er aus dem Haus trat, hatte er das Glück, gerade einen Bus zu erwischen. Am Rädhusplads stieg er aus, ging zum Hauptbahnhof und kaufte eine schonische Zeitung. Der

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