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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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hebe die Sonne nicht an«, hatte er gesagt. Immer wieder, bis der Vorschlag gestorben war. Er machte sich nie die Mühe zu argumentieren. Die lästigen Menschen hörten sowieso nicht zu. Sie waren nicht nur ketzerhaft, sondern auch hochmütig, sie glaubten, daß er ihnen für die idiotischen Ideen, die sie vorbrachten, auch noch dankbar sein sollte.
    »Ein Fuchsjunges liegt nicht da und sieht einen Auerhahn an«, sagte er. »Das Fuchsjunge versucht vielleicht, den Auerhahn zu fressen. Aber vermutlich zieht es sich zurück.«
    Es gab eine Gruppe von Menschen, bei denen ihr Großvater jedoch gezwungenermaßen zuhörte. Das machte sie zu den lästigsten von allen. Das waren die Seidenritter, die Einkäufer, die in ihren funkelnden, protzigen Amischlitten daherkamen und seine Bilder für ein Spottgeld aufkauften, bevor sie in den ewigen schwedischen Kreislauf von Märkten eintauchten, die mit dem Wetter von Norden nach Süden und wieder zurück zogen. Sie konnten zu ihm kommen und sagen, sie glaubten, die halbnackten, etwas dunkelhäutigen Damen – nicht zu dunkel, nicht zu klein – würden in diesem Jahr in Mode sein. Ein andermal konnten sie der festen Meinung sein, daß eine Morgensonne einer Abendsonne vorzuziehen sei.
    Zuweilen erdreistete er sich dann, die Frage zu stellen: »Und warum wird die Morgensonne dieses Jahr populärer?«
    Es gab keine Antworten, keine Argumente, nur die großen und schweren Brieftaschen dieser lästigen Menschen. Die Existenz der ganzen Familie stand auf dem Spiel, wenn ein Geldscheinbündel nicht hervorgeholt und der Wagen nicht mit Landschaften mit oder ohne Auerhahn vollgepackt wurde.
    Ein Mensch konnte der Gegenwart der Lästigen nie ganz entgehen, hatte ihr Großvater gesagt. »Sie sind wie Aale. Man versucht, sie zu packen, aber sie winden sich einem immer wieder aus dem Griff. Außerdem bewegen sich Aale immer nur im Dunkeln. Das bedeutet nicht, daß die lästigen Menschen, wenn ich sie nun einmal mit Aalen vergleiche, nur nachts in Bewegung sind. Im Gegenteil, sie kommen oft morgens mit ihren idiotischen Vorschlägen. Ihr Dunkel ist ein anderes. Es ist das große Dunkel, das sie in sich tragen; daß sie nicht einsehen, wie lästig sie sind, wenn sie sich in die Angelegenheiten anderer einmischen. Ich habe mich nie in die Angelegenheiten anderer eingemischt.«
    Dieses Letzte war die große Lebenslüge ihres Großvaters gewesen. Damit war er gestorben, in Unwissenheit darum, daß er sich in seinem ganzen Leben, und mehr als andere, in die Entscheidungen anderer eingemischt hatte, in ihre Träume und ihre Handlungen. Dabei war es nicht um das Einfügen von Fuchsjungen oder die Anhebung von Abendsonnen gegangen, sondern es war ein ständiges Manövrieren gewesen, mit dem Ziel, daß seine beiden Kinder seinen Willen befolgten.
    Die Erinnerung an die lästigen Menschen überkam sie gerade in dem Moment, als sie an Annas Wohnungstür klingeln wollte. Sie verharrte mit dem Finger ein paar Zentimeter vom Klingelknopf entfernt, wie erstarrt in der Erinnerung an ihren Großvater, wie er mit seiner schmutzigen Kaffeetasse in der Hand dasaß und von irgendeinem unseligen Menschen erzählte, der zufällig sein Atelier betreten hatte. Ist Anna ein lästiger Mensch? Sie hat Unordnung in mein Leben gebracht, und ich habe mir Sorgen gemacht. Es ist unbegreiflich, daß sie überhaupt nicht einzusehen scheint, was sie angerichtet hat.
    Sie klingelte. Anna öffnete, lächelnd, in weißer Bluse und dunkler Hose, barfuß. Sie hatte das Haar im Nacken zu einem Knoten zusammengeschlungen.
    Linda hatte sich vorgenommen, nicht zu warten, dann würde alles nur noch schwerer werden. Sie legte ihre Jacke über einen Stuhl und sagte: »Ich will dir sagen, daß ich die letzten Seiten in deinem Tagebuch gelesen habe. Um zu sehen, ob ich irgendeine Erklärung dafür finden konnte, daß du verschwunden warst.«
    Anna zuckte zusammen. »Dann war es das, was ich gemerkt habe«, sagte sie. »Es schlug mir wie ein fremder Duft aus dem Tagebuch entgegen, als ich es öffnete.«
    »Ich bitte dich um Entschuldigung. Aber ich war so unruhig deinetwegen. Ich habe nur die letzten Seiten gelesen, sonst nichts«, sagte Linda.
    Man lügt, damit das, was nicht ganz wahr ist, sich plausibel anhört, dachte sie. Aber Anna durchschaut mich vielleicht. Dieses Tagebuch wird immer zwischen uns stehen. Was habe ich gelesen und was nicht? wird sie sich fragen.
    Sie gingen ins Wohnzimmer. Anna blieb mit dem Rücken zu Linda am Fenster

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