Vor dem Frost
alleinreisende Dame.«
Linda brachte kein Wort heraus.
»Hallo? Sind Sie noch da? Hallo?«
»Ich nehme an, sie hieß Linda mit Vornamen?«
»Ganz richtig. Mehr kann ich leider nicht für Sie tun. Vielleicht hat Ihre Freundin in einem anderen Hotel in Malmö gewohnt. Wir haben ja außerdem noch unser eigenes ausgezeichnetes Hotel bei Lund.«
»Danke.«
Linda knallte den Hörer auf. Zuerst war es Verblüffung, dann Zorn. Sie dachte, daß sie sofort mit ihrem Vater reden müßte, nicht auf eigene Faust weitermachen durfte. Von jetzt an interessiert mich nur, warum sie meinen Namen benutzt, wenn sie in Malmö ins Hotel geht, um nach ihrem Vater zu suchen.
Am Küchentisch riß sie ein Blatt von einem Block ab und strich das Wort ›Spargel‹ durch, das ihr Vater aufgeschrieben hatte. Er ißt doch keinen Spargel, dachte sie irritiert. Aber als sie anfangen wollte, alle wichtigen Punkte, Namen und Ereignisse seit Annas Verschwinden aufzuschreiben, wußte sie nicht mehr, was sie notieren sollte. Es endete damit, daß sie einen Schmetterling zeichnete und blau ausmalte. Der Kugelschreiber war leer. Sie suchte einen anderen. Der erste Flügel wurde blau, der zweite schwarz. So einen Schmetterling gibt es nicht, dachte sie. Genausowenig wie Annas Vater. Was wirklich ist, sind ganz andere Dinge. Brennende Tiere, die sterben, ein zerstückelter Mensch in einer Waldhütte, Überfälle in Kopenhagen.
Um elf Uhr machte sie einen Spaziergang zum Hafen, ging hinaus auf die Pier und setzte sich auf einen Poller. Sie versuchte, eine plausible Erklärung dafür zu finden, warum Anna einen anderen Namen angegeben hatte. Wichtig war nicht, daß sie gerade ihren gewählt hatte. Es hätte auch Zebras oder irgendein erfundener Name sein können. Das Wichtige, dachte Linda, und es gelang ihr, sich davon zu überzeugen, daß sie recht hatte, war, daß Anna sich unter falschem Namen auf die Suche nach ihrem Vater begeben hatte.
Eine tote Ente trieb im trüben Wasser am Stenkaj. Als Linda schließlich aufstand, hatte sie noch keine plausible Erklärung gefunden. Es muß eine geben, dachte sie. Ich finde sie nur nicht.
Um Punkt zwölf klingelte sie an Annas Tür. Ihre Unruhe von vorher hatte sich gelegt. Jetzt war sie nur auf der Hut.
Torgeir Langaas schlug die Augen auf. Jeden Morgen wunderte er sich darüber, daß er noch lebte. Zwei Bilder flossen stets ineinander, wenn er aufwachte. Er sah sich selbst mit seinen eigenen und gleichzeitig mit den Augen des anderen, der ihn einst dazu gebracht hatte, sich von der Straße und aus dem Suff und der Drogenabhängigkeit zu erheben und den Weg zu wandern, der zu einem fernen, doch nicht unerreichbaren Paradies führte. Er hatte dort in der Gosse gelegen, vollgekotzt, stinkend, jenseits aller Hoffnung, eines Tages vielleicht frei zu sein von allen Giften. Es war das Ende der langen Reise gewesen, vom verwöhnten Erben eines der größten Reedereivermögen in Norwegen bis zu einem von Alkohol und Drogen verwüsteten Wrack in der Gosse in Cleveland. Dort hätte die Reise mit dem Tod in einer Gasse enden sollen, und dann ein Armenbegräbnis auf Kosten des Staates Ohio.
Er lag wach in Vigstens Wohnung in der Nedergade in der Dienstmädchenkammer, deren Existenz Vigsten vergessen hatte. Aus der Wohnung war das eintönige Klimpern eines Klavierstimmers zu hören, der am Flügel arbeitete. Jeden Mittwoch kam er und stimmte das Instrument. Torgeir Langaas war musikalisch genug, um hören zu können, daß der Klavierstimmer nur äußerst geringe Korrekturen vornehmen mußte. Er konnte auch vor sich sehen, wie der alte Vigsten reglos auf einem Stuhl am Fenster saß und alle Bewegungen des Klavierstimmers verfolgte. Torgeir Langaas streckte sich. Am Abend zuvor war alles wie geplant verlaufen. Die Tierhandlung war abgebrannt, nicht eine Maus, nicht ein einziger Hamster hatte überlebt. Erik hatte ihm erklärt, wie wichtig es war, daß dieses letzte Tieropfer nicht mißlang. Erik kam immer wieder darauf zu sprechen. Daß Gott keine Fehler zuließ. Der Mensch, den er nach seinem Bilde geschaffen hatte, durfte nicht nachlässig an seine Aufgaben herangehen. Es galt, sein Leben zu leben, sich für den Aufstieg zu der Herrlichkeit zu rüsten, die Gott den Auserwählten vorbehalten hatte, denen, die zurückkehren und die Erde erneut bevölkern würden, wenn die große Erweckung gesiegt hatte.
Torgeir Langaas tat jeden Morgen, was Erik ihn gelehrt hatte. Er war der führende und der erste Jünger. Nur noch
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