Vor dem Frost
kurze Zeit würde Torgeir für Erik das wichtigste Werkzeug sein. Jeden Morgen mußte Torgeir den Treueeid wiederholen, den er Erik und Gott geschworen hatte. »Es ist meine Aufgabe, jeden Tag im Gehorsam gegen Gott und seinen Meister die Befehle zu befolgen, die ich erhalte, und nicht zu zögern, die Handlungen auszuführen, die erforderlich sind, damit die Menschen verstehen, was diejenigen, die von Gott abfallen, treffen wird. Nur in der Rückkehr zu Gott und in der Beherzigung der Worte, die sein einziger und wahrer Prophet über die Welt verbreiten wird, liegt die Hoffnung auf Errettung, die Hoffnung, eines Tages zur Schar derer zu gehören, die zurückkommen, wenn der große Übergang abgeschlossen ist.«
Er blieb mit gefalteten Händen im Bett liegen und murmelte die Zeilen aus dem Brief des Judas, die Erik ihn gelehrt hatte: »Als der Herr sein Volk aus Ägypten befreite, überließ er dennoch in einer späteren Zeit diejenigen dem Verderben, die ihm nicht glaubten.« Du kannst jeden Raum in eine Kathedrale verwandeln, hatte Erik gesagt. Die Kirche existiert in dir und um dich her.
Er flüsterte seinen Eid, schloß die Augen und zog die Decke hoch bis ans Kinn. Der Klavierstimmer schlug immer wieder denselben hohen Ton an. Die Kirche existiert in dir und um dich her. Das waren die Worte, die ihm die Eingebung vermittelt hatten, einen neuen Typ von Verstecken zu beschaffen. Sie benötigten nicht nur die Hütten im Wald oder ein Haus wie das hinter der Kirche in Lestarp. Er konnte sich auch ein Wirtstier, einen Organismus suchen, wo er sich verstecken konnte, ohne daß der Wirt von seiner Existenz auch nur etwas ahnte. Er hatte an seinen eigenen Großvater gedacht, der in seinen letzten Jahren allein in seinem Haus bei Femunden gewohnt hatte, obwohl er verwirrt und vergeßlich war. Einmal hatte eine von Torgeirs Schwestern in den Ferien eine Woche bei ihm gewohnt, ohne daß er es bemerkt hatte. Torgeir hatte mit Erik über seine Idee gesprochen und die Antwort bekommen, wenn er meine, daß sie durchführbar sei, ohne daß er dadurch den großen Plan in Gefahr brachte, könne er es versuchen. Frans Vigsten war wie aus dem Nichts aufgetaucht. Torgeir hatte gedacht, daß er ihm vielleicht sogar von Erik über den Weg geschickt worden war. Es war in einer Kneipe in Nyhavn gewesen, in die Torgeir gegangen war, um sich die Menschen anzusehen, die dort saßen und tranken. Er wollte sich selbst beweisen, daß er allen Versuchungen zu widerstehen vermochte. Frans Vigsten hatte dort gesessen und Wein getrunken. Plötzlich war er aufgestanden und auf Torgeir zugekommen und hatte gefragt: »Können Sie mir sagen, wo ich bin?«
Torgeir hatte sogleich erfaßt, daß der alte Mann nicht betrunken war, sondern verwirrt. »In einer Kneipe in Nyhavn.«
Der Mann war ihm gegenüber auf einen Stuhl gesunken, hatte lange geschwiegen und dann gefragt:
»Wo liegt das?«
»Nyhavn? Das liegt in Kopenhagen.«
»Ich habe vergessen, wo ich wohne.«
Auf einem Papier in seiner Brieftasche fanden sie die Adresse: Nedergade. Aber Frans Vigsten konnte sich nicht daran erinnern, dort zu wohnen.
»Es kommt und geht«, sagte er. »Vielleicht wohne ich dort, wo ich auch meinen Flügel habe und meine Schüler empfange.«
Torgeir war mit ihm nach draußen gegangen, hatte ein Taxi herangewinkt und war mitgefahren in die Nedergade. Auf einer Tafel im Hausflur stand der Name Vigsten. Torgeir begleitete ihn nach oben, und Frans Vigsten erkannte seine Wohnung an dem muffigen Geruch, als sie eingetreten waren.
»Hier wohne ich«, sagte er. »So riecht es in meinem Flur.« Dann war er in der weitläufigen Wohnung verschwunden und schien vollkommen vergessen zu haben, daß Torgeir Langaas ihn herbegleitet hatte. Bevor Torgeir die Wohnung verließ, suchte er einen zweiten Wohnungsschlüssel. Ein paar Tage später richtete er sich in der Dienstmädchenkammer ein, die ungenutzt dalag, und bisher hatte Frans Vigsten nicht erkannt, daß er als Wirtstier für einen Mann diente, der auf einen Bescheid wartete, wann er in einem höheren Zustand aufgehen sollte. Ein einziges Mal waren sie in der Wohnung zusammengestoßen. Er hatte an Frans Vigstens Augen gesehen, daß die Erinnerung an ihre Begegnung in Nyhavn längst erloschen war. Vigsten glaubte, einen seiner Schüler vor sich zu haben. Torgeir Langaas sagte, er sei nicht gekommen, um Klavier zu spielen, sondern um die Heizkörper zu entlüften. Frans Vigsten hatte ihn allein gelassen und seine
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