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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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konnte noch immer nicht verstehen, daß sie ihm in all den Jahren, in denen er auf dem Boden seines eigenen Elends umherkroch, nicht abhanden gekommen oder gestohlen worden war. Er ritzte mit der Diamantnadel in den Tisch. Die Zeit war gekommen, sich von seinem letzten Besitzstück zu trennen. Er verließ das Cafe und sah sich in der großen Bahnhofshalle um. Der Betrunkene saß auf einer Bank und schlief. Er trat zu ihm und steckte ihm die Diamantnadel in die Tasche. Jetzt blieb nur noch eins, sich von der letzten Schwäche zu befreien. Gott plant alles gut, dachte er. Gott und sein Diener Erik sind keine Träumer. Erik hat erklärt, daß das Leben, der Mensch, bis ins kleinste Detail organisiert und durchdacht ist. Deshalb habe ich auch diesen Tag bekommen, um mich von der Schwäche zu befreien und mich bereit zu machen.
    Sylvi Rasmussen war Anfang der neunziger Jahre mit einem Schiff nach Dänemark gekommen, das an der Westküste Jütlands seine Last von illegalen Flüchtlingen gelöscht hatte. Da hatte sie eine lange und streckenweise entsetzliche Reise von Bulgarien hinter sich, wo sie geboren war. Sie war in Lastwagen und auf Traktoranhängern gefahren und hatte zwei grauenvolle Tage und Nächte in einem Container eingeschlossen verbracht, in dem die Luft knapp wurde. Damals hieß sie nicht Sylvi Rasmussen, sondern Nina Barovska. Sie hatte ihre Reise bezahlt, indem sie sich verpfändete, und als sie zu dem einsamen Strand in Jütland kam, hatten zwei Männer auf sie gewartet. Sie hatten sie in eine Wohnung in Aarhus gebracht und eine Woche vergewaltigt und geschlagen und dann, als sie gebrochen war, nach Kopenhagen gebracht und in einer Wohnung als Prostituierte eingesperrt gehalten. Nach einem Monat hatte sie versucht zu fliehen. Doch da hatten die Männer ihr an beiden Händen den kleinen Finger abgeschnitten und ihr mit noch schlimmeren Strafen gedroht, falls sie ihren Fluchtversuch wiederholte. Das tat sie nicht. Um ihr Leben ertragen zu können, begann sie Drogen zu nehmen und hoffte, nicht allzulange leben zu müssen.
    Eines Tages hatte ein Mann namens Torgeir Langaas die Wohnung besucht und ihre Dienste in Anspruch genommen. Er kam wieder und wurde einer ihrer festen Kunden. Dann und wann versuchte sie mit ihm zu reden, ihre kurzen Begegnungen in eine Art verzweifelten menschlichen Zusammenhang zu bringen. Aber er schüttelte nur den Kopf und murmelte etwas Unverständliches. Obwohl er freundlich war und ihr nicht weh tat, schauderte es sie zuweilen nach seinen Besuchen. Der Mann, der ihr treuester und freundlichster Kunde war, strahlte etwas Bedrohliches, etwas Unheimliches aus. Seine großen Hände berührten sie behutsam. Dennoch machte er ihr angst.
    Es war elf, als er an der Tür klingelte und ihre Wohnung betrat. Er besuchte sie immer vormittags. Um ihr den Augenblick der Furcht, der Einsicht, daß sie an diesem Vormittag Anfang September sterben sollte, zu ersparen, griff er sie von hinten an, als sie auf dem Weg ins Schlafzimmer waren. Mit seinen großen Händen faßte er sie an der Stirn und im Nacken und brach ihr mit einem schnellen Ruck das Genick. Er legte sie aufs Bett, zog ihr die Kleider aus und arrangierte alles so, daß es nach einem Sexualmord aussah. Er blickte sich um und dachte, daß Sylvi ein besseres Schicksal verdient gehabt hätte. Unter anderen Umständen hätte er sie gern mitgenommen ins Paradies. Aber Erik bestimmte. Für ihn war es wichtiger, daß die Jünger ohne Schwäche waren. Jetzt war er es. Die Frau, der Trieb waren fort.
    Er verließ die Wohnung. Jetzt war er bereit. Erik wartete, Gott wartete.
    Linda erinnerte sich an das Bild eines lästigen Menschen, das ihr Großvater ihr einmal beschrieben hatte. Für ihn waren im Grunde alle Menschen lästig, aber meistens konnte er es ganz einfach vermeiden, sie an sich heranzulassen. Es war jedoch nicht möglich, ganz und gar von der Gegenwart der Lästigen befreit zu sein. Die lästigsten Menschen in der Welt ihres Großvaters waren diejenigen, die in sein Atelier kamen und sich über seine Bilder äußerten. Manche glaubten, sie inspirierten ihn, wenn sie vorschlugen, daß er vielleicht versuchen könnte, die Abendsonne eine Ahnung höher über die Landschaft zu setzen, um eine bessere Ausgewogenheit des Bildes zu erreichen. Oder vielleicht könnte ein Fuchsjunges links im Vordergrund liegen und den Auerhahn betrachten, der mitten im rotgestreiften Lichtstrahl thronte, den die untergehende Sonne durch den Wald warf.
    »Ich

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