Vor dem Frost
gemeinsames Interesse für Schmetterlinge. Mehr weiß ich nicht. Vor kurzem schrieb sie mir und fragte, ob wir uns gemeinsam ein Pferd kaufen sollten. Ich habe ihr nicht geantwortet.«
Linda suchte nach einem Indiz dafür, daß Anna log, fand aber keins. So etwas soll ich auch nicht tun, dachte sie. Ich soll einen Streifenwagen fahren und Betrunkene aufsammeln, die sich selbst nicht mehr helfen können. Papa soll mit Anna reden, nicht ich. Da war nur das mit dem Schmetterling. Der leere Fleck an der Wand.
Anna war ihrem Blick gefolgt und hatte Lindas Gedanken schon gelesen. Sie antwortete, ohne daß Linda ihre Frage zu stellen brauchte. »Ich habe den Schmetterling mitgenommen, um ihn meinem Vater zu schenken, wenn wir uns träfen. Als mir aufging, daß alles nur Einbildung war, habe ich ihn in den Kanal geworfen.«
Es kann stimmen, dachte Linda. Oder sie lügt so geschickt, daß es mir nicht möglich ist, das Falsche zu durchdringen.
Es klingelte von neuem. Jetzt war Ann-Britt Höglund auf dem Anrufbeantworter. Anna sah Linda fragend an, die nickte. Anna nahm ab. Das Gespräch war kurz, Annas Kommentare einsilbig.
Sie legte auf und sah Linda an. »Sie wollen, daß ich jetzt komme.«
Linda stand auf. »Dann ist es das beste, du gehst.«
»Ich möchte, daß du mitkommst.«
»Warum denn?«
»Dann würde ich mich sicherer fühlen.«
Linda war skeptisch. »Ich glaube nicht, daß das besonders passend ist.«
»Aber ich stehe unter keinem Verdacht. Das hat sie gesagt, die eben anrief. Sie wollen nur ein Gespräch mit mir, sonst nichts. Und du bist Polizistin und außerdem meine Freundin.«
»Ich kann ja mit dir gehen. Aber ich bin nicht sicher, daß sie mich mit hineinlassen.«
Ann-Britt Höglund kam zur Anmeldung, um Anna zu holen. Sie sah Linda mißbilligend an. Sie kann mich nicht leiden, dachte Linda wieder. Sie ist bestimmt eine Frau, die junge Männer mit Ringen in den Ohren und flotten Ansichten vorzieht. Sie merkte, daß Ann-Britt zugenommen hatte. Bald sind die Fettpolster da, dachte sie mit Genugtuung. Aber ich frage mich, was mein Alter in dir gesehen hat, als er dir vor ein paar Jahren den Hof gemacht hat.
»Ich möchte, daß Linda dabei ist«, sagte Anna.
»Ich weiß nicht, ob das geht«, sagte Ann-Britt Höglund. »Warum denn?«
»Ich komme vielleicht durcheinander«, sagte Anna. »Ich möchte nur, daß sie dabeisitzt. Sonst nichts.«
Genau, dachte Linda. Ein lästiger Mensch ist genau das, was jetzt gebraucht wird.
Ann-Britt Höglund zuckte mit den Schultern und sah Linda an. »Du kannst ja mit deinem Vater reden, ob er dich dabeihaben will«, sagte sie. »Du kennst ja sein Zimmer. Zwei Türen weiter, der kleine Sitzungsraum.«
Ann-Britt Höglund ließ sie stehen und marschierte in eine andere Richtung davon.
»Sollst du hier arbeiten?« fragte Anna.
»Kaum. Für mich kommen wohl fürs erste die Garage und die Vordersitze in verschiedenen Autos in Frage.«
Die Tür des Sitzungsraums stand halb offen. Linda sah ihren Vater mit einer Kaffeetasse in der Hand auf einem Stuhl sitzen und wippen. Er wird diesen Stuhl zermalmen, dachte sie. Müssen alle Polizisten so fett werden? Dann höre ich vorzeitig auf. Sie schob die Tür auf. Er schien nicht verwundert zu sein, sie in Annas Gesellschaft zu sehen. Er gab Anna die Hand.
»Ich möchte, daß Linda dabei ist«, sagte sie.
»Das ist kein Problem.«
Er warf einen Blick in den Flur. »Wo ist Ann-Britt?«
»Ich glaube, sie wollte nicht dabeisein«, sagte Linda und setzte sich an eine Schmalseite des Tischs, so weit weg von ihrem Vater wie möglich.
An diesem Tag lernte Linda etwas Entscheidendes über polizeiliche Arbeit. Nicht nur ihr Vater, auch Anna trug dazu bei. Ihr Vater dadurch, daß er unmerklich das Gespräch in die Richtung lenkte, die er wünschte. Er ging nie direkt auf Anna los, begleitete sie statt dessen, hörte auf ihre Antworten, war die ganze Zeit positiv, auch wenn sie sich widersprach. Er schien unbegrenzt Zeit zu haben, aber er ließ sie nicht entwischen. Linda dachte, daß Anna der Aal war, den er ruhig und methodisch an den Leitnetzen entlang zur innersten Reuse lenkte, aus der es keine Rückkehr in die Freiheit mehr gab.
Annas Beitrag waren ihre Lügen. Sowohl Linda als auch ihr Vater merkten, daß sie sich nicht an die Wahrheit hielt. Sie schien zu versuchen, die Lügen auf ein Minimum zu reduzieren, ohne daß es ihr gelang. Ein einziges Mal, als Anna sich nach einem Bleistift bückte, der auf den Fußboden gefallen
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