Vor dem Frost
stehen.
In diesem Augenblick wurde Linda klar, daß sie Anna überhaupt nicht kannte. Kinder kennen einander auf eine besondere Art und Weise, dachte sie. Sie treffen keine Vereinbarungen wie Erwachsene, sie vertrauen einander, oder sie tun es nicht. Man wird genauso plötzlich zum Feind, wie man entdeckt, daß man der beste Freund von jemand ist. Linda sah ein, daß es jetzt keine Fortsetzung der Gemeinschaft geben konnte, die existiert hatte, als sie Kinder und Teenager waren. Der Versuch, auf dem alten Grund ein neues Haus zu errichten, war zum Scheitern verurteilt. Sie wußte nicht, wer Anna war. Sie betrachtete Annas Rücken wie einen Feind, der sich ihr plötzlich offenbart hatte.
Symbolisch warf sie diesem Rücken den Fehdehandschuh hin. »Eine Frage mußt du mir beantworten.«
Anna drehte sich nicht um.
Linda wartete auf eine Bewegung, die nicht kam. »Ich hasse es, mich mit einem Rücken zu unterhalten.«
Immer noch keine Reaktion. Ein lästiger Mensch, dachte Linda. Was hätte Großvater mit diesem Exemplar gemacht? Er hätte nicht versucht, den Aal festzuhalten, sondern hätte ihn ins Feuer geworfen und ihn sich in den Flammen zu Tode winden lassen. Lästige Menschen können eine Grenze überschreiten, und dann erwartet sie keine Gnade.
»Warum hast du meinen Namen benutzt, als du in Malmö im Hotel gewohnt hast?«
Linda versuchte, etwas von Annas Rücken abzulesen, während sie sich den Schweiß vom Hals wischte. Das wird mein Fluch, hatte sie schon in den ersten Monaten an der Polizeihochschule gedacht. Es gibt lachende Polizisten und weinende Polizisten, aber ich werde die erste schwitzende Polizistin.
Anna brach in ein Lachen aus und drehte sich um. Linda versuchte, sich als Deuterin des Lachens zu betätigen; war das Gefühl, das Anna in ihr Lachen pumpte, echt oder nicht?
»Wie hast du das denn herausgefunden?«
»Ich habe angerufen und gefragt.«
»Warum denn?«
»Ich weiß nicht.«
»Wonach hast du gefragt?«
»Das dürfte ja nicht schwer auszurechnen sein.«
»Du rechnest besser als ich.«
»Ich habe nach Anna Westin gefragt. Ob sie im Hotel wohnte oder nicht. Keine Westin, dagegen eine Wallander. Das war nicht schwer. Warum hast du das getan?«
»Was würdest du sagen, wenn ich dir antworte, daß ich nicht weiß, warum ich deinen Namen benutzt habe? Vielleicht fürchtete ich, mein Vater würde sich verstecken, wenn er entdeckte, daß ich in dem Hotel wohnte, in dem wir uns gesehen hatten, jeder auf einer Seite der Glasscheibe. Wenn du eine Antwort willst, die wahr ist, dann lautet sie: Ich weiß es nicht.«
Das Telefon klingelte. Anna machte keine Anstalten abzunehmen. Sie warteten, bis der Anrufbeantworter ansprang. Es war Zebras zwitschernde Stimme. Sie wollte nichts Besonderes.
»Ich liebe Menschen, die mit so viel Energie und guter Laune nichts Besonderes wollen«, sagte Anna.
Linda antwortete nichts. Zebra war im Moment nicht in ihrem Kopf.
»Ich habe in deinem Tagebuch den Namen Birgitta Medberg gelesen. Weißt du, was mit ihr passiert ist?«
»Nein.«
»Hast du keine Zeitungen gelesen?« »Ich habe nach meinem Vater gesucht.«
»Sie ist ermordet worden.«
Anna betrachtete sie aufmerksam. »Und warum?«
»Das weiß ich nicht.«
»Was meinst du damit?«
»Das, was ich sage. Es ist ein Mord. Ein unaufgeklärter Mord. Die Polizei weiß nicht, wer der Täter ist. Sie werden dich vernehmen, um dich zu fragen, welcher Art deine Beziehung zu Birgitta Medberg war.«
Anna schüttelte den Kopf. »Was ist denn passiert? Wer sollte ihr etwas Böses gewollt haben?«
Linda entschloß sich, keine Details des makabren Verbrechens zu enthüllen. Sie sagte nur, wo es passiert war.
Annas Betroffenheit wirkte vollkommen echt. »Und wann war das?«
»Vor ein paar Tagen.«
»Soll ich mit deinem Vater sprechen?«
»Vielleicht. Aber es arbeiten viele an der Ermittlung.«
Anna schüttelte sich, trat vom Fenster zurück und setzte sich.
»Woher kanntest du sie?« fragte Linda.
Anna betrachtete sie plötzlich irritiert. »Ist das hier ein Verhör?«
»Ich bin nur neugierig.«
»Wir sind zusammen geritten. Wie wir uns kennengelernt haben, weiß ich nicht mehr. Aber jemand hatte zwei norwegische Fjordpferde, die bewegt werden mußten. Das machten sie und ich. Ich kann nicht sagen, daß ich sie besonders gut kannte. Eigentlich überhaupt nicht. Sie sagte nie besonders viel. Ich weiß, daß sie damit beschäftigt war, alte Wege und Pilgerpfade zu kartieren. Außerdem hatten wir ein
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