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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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im Hintergrund stand. »Wie lange können wir hier drinnen sein?«
    »Wir gehen davon aus, daß wir das Dach nicht retten können, es wird einstürzen.«
    »Wann?«
    »Bald.«
    »Wieviel Zeit haben wir?«
    »Zehn Minuten. Höchstens. Mehr wage ich nicht zu sagen.«
    Wallander sah ein, daß kein Techniker es schaffen würde, herzukommen. Er setzte einen Helm auf, den jemand ihm reichte. »Geh raus und sieh nach, ob einer der Schaulustigen einen Fotoapparat oder eine Videokamera hat. Wenn ja, konfiszierst du sie. Wir müssen das hier dokumentieren.«
    Martinsson verschwand. Wallander betrachtete weiter die Tote. Das Tau war grob, fast wie eine Schiffstrosse, es lag in einer Schlinge um den Hals. Die Enden des Taus zeigten in entgegengesetzte Richtungen vom Körper fort. Zwei Personen, dachte er, jeder hat nach seiner Seite gezogen. Wie früher, als man Menschen in Stücke riß, indem man sie mit Armen und Beinen an Pferde band, die in unterschiedliche Richtungen zogen.
    Er warf einen Blick zum Dach hinauf. Die ersten Flammen schlugen bereits durch. Menschen liefen um ihn her und trugen Gegenstände hinaus. Ein älterer Mann im Schlafanzug mühte sich mit einem schönen alten Altarschrein ab. Die Situation hatte etwas Ergreifendes, dachte er. Menschen entdecken, daß sie im Begriff sind, etwas zu verlieren, was sie nicht verlieren wollen.
    Martinsson kam mit einer Videokamera zurück.
    »Verstehst du dich darauf?«
    »Ich glaube schon«, erwiderte Martinsson.
    »Dann bist du jetzt Fotograf. Nimm die Totale auf und die Details, von allen Seiten.«
    »Fünf Minuten«, sagte Mats Olsson. »Keinen Augenblick länger.«
    Wallander ging neben der Toten in die Hocke. Sie war blond, ähnelte auf eine erschreckende Weise seiner Schwester Kristina. Eine Hinrichtung, dachte er. Kürzlich brannten Tiere, jetzt sterben Menschen in brennenden Kirchen. Was hatte Amy Lindberg zu hören geglaubt?
Gott hat gefordert?
    Hastig durchsuchte er die Taschen der Frau. Sie waren leer. Er blickte sich um. Auch keine Handtasche. Er wollte gerade aufgeben, als er entdeckte, daß ihre Bluse eine Brusttasche hatte. Darin steckte ein handgeschriebener Zettel mit Namen und Adresse.
Harriet Bolson, 5th Avenue, Tulsa.
    Er erhob sich.
    »Die Zeit ist um«, sagte Mats Olsson. »Jetzt gehen wir.«
    Er jagte alle, die in der Kirche waren, hinaus. Die Tote wurde hinausgetragen. Kurt Wallander nahm selbst das Tau an sich. Hinter der Absperrung türmten sich Sachen, die aus der Kirche gerettet worden waren. Eine ältere Frau stand mit einem rußigen Leuchter in den Händen da. Viele Menschen waren da, viele weinten, und ständig trafen neue ein.
    Martinsson rief in Ystad an. »Schickt eine Suchmeldung nach einer Frau aus Tulsa in den USA raus«, sagte er. »Schlagt in sämtlichen Registern nach, hiesige, europäische, internationale. Höchste Priorität.«
    Linda schaltete ungeduldig den Fernseher aus. Sie holte den zweiten Autoschlüssel, den ihr Vater auf einem Bücherregal im Wohnzimmer aufbewahrte. Dann machte sie sich auf den Weg und joggte hinauf zum Parkplatz des Polizeipräsidiums. Der Wagen stand in einer Ecke des Parkplatzes. Sie kannte den Wagen, der daneben stand. Er gehörte Ann-Britt Höglund. Sie fühlte in der Tasche nach ihrem Taschenmesser. Aber heute abend würde sie keine Reifen zerstechen. Hurup, hatte sie ihn sagen hören. Und Frennestad. Sie öffnete die Wagentür und fuhr los. Beim Wasserturm hielt sie an und suchte im Handschuhfach nach einer Karte. Wo Frennestad lag, wußte sie, aber Hurup kannte sie nicht. Sie fand es, löschte die Deckenleuchte und verließ die Stadt. Auf halber Strecke nach Hörby bog sie nach links ab, und nach einigen Kilometern sah sie die brennende Kirche von Hurup. Sie fuhr heran, so nah sie konnte, stellte den Wagen ab und ging zur Kirche. Ihr Vater war nicht da, es waren nur Ordnungspolizisten, und ihr kam der Gedanke, daß sie hier vor den Absperrungen hätte stehen können, wenn die Kirche ein paar Tage später gebrannt hätte. Sie sagte, wer sie war, und fragte, ob ihr Vater irgendwo in der Nähe sei.
    »Es brennt noch eine Kirche«, bekam sie zur Antwort. »In Frennestad. Und dort gibt es Tote.«
    »Was ist denn passiert?«
    »Man kann wohl davon ausgehen, daß die Brände gelegt wurden. Zwei Kirchen fangen nicht gleichzeitig Feuer. Was in der Kirche von Frennestad passiert ist, wissen wir nicht. Aber dort gibt es Tote.«
    Linda nickte und ging davon. Plötzlich hörte sie ein Krachen hinter sich. Sie

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