Vor dem Frost
Hurup bog er nach links in Richtung Staffanstorp ab. Zehn Minuten später bog er erneut links ab und hielt auf der Rückseite eines eingestürzten Stallgebäudes, das zu einem aufgelassenen Hof gehörte. Er stieg aus und ließ die anderen von der Ladefläche herunterklettern.
Er sah auf die Uhr. Sie waren im Zeitplan. Sie gingen langsam, damit niemand fiel oder zurückblieb. Ein Teil derer, die ihm folgten, war nicht mehr ganz jung, einige waren krank, die Frau aus England war sechs Monate zuvor wegen Krebs operiert worden. Er hatte gezögert, ob er sie mitnehmen sollte, und Gott um Rat gefragt, und die Antwort war gewesen, sie habe ihre Krankheit überlebt, damit sie ihren Auftrag zu Ende bringen sollte. Sie gelangten zu einem Weg, der zur Rückseite von Frennestads Kirche führte. Er fühlte in seiner Tasche nach, ob er den Schlüssel der Kirchentür auch wirklich eingesteckt hatte. Vor zwei Wochen hatte er die Kopie ausprobiert, die Torgeir ihm beschafft hatte. Es hatte nicht einmal geknirscht, als er die Tür aufschloß. Bei der Mauer angekommen, blieben sie stehen. Keiner sagte etwas. Alles, was er hörte, waren Menschen, die neben ihm atmeten. Ruhige Atemzüge, dachte er, keiner keucht, keiner ist unruhig. Am wenigsten sie, die bald sterben wird.
Er schaute wieder auf die Uhr. In dreiundvierzig Minuten würden Torgeir, Buchanan und Lambert die Kirche in Hurup in Brand stecken. Sie gingen los. Das Tor in der Friedhofsmauer wurde ohne einen Laut geöffnet. Torgeir hatte die Angeln erst gestern geölt. Sie folgten ihm in einer langen Reihe zwischen den Grabsteinen. Erik schloß auf. Im Innern der Kirche war es kühl. Hinter ihm schüttelte sich jemand. Er leuchtete mit der abgeschirmten Taschenlampe. Sie setzten sich in die ersten Bankreihen, wie es ihnen befohlen worden war. Die letzte Instruktion, die Erik ausgesandt hatte, enthielt einhundertdreiundzwanzig Einzelanweisungen, die sie auswendig lernen mußten. Er zweifelte nicht daran, daß sie es getan hatten.
Erik zündete die Kerzen an, die Torgeir am Altar aufgestellt hatte. Er ließ den Strahl der Taschenlampe über die Gesichter in der ersten Reihe gleiten. Als vorletzte links neben dem Taufbecken saß Harriet Bolson, die Frau aus Tulsa. Erik verweilte einige Sekunden länger bei ihrem Gesicht. Sie war vollkommen ruhig. Gottes Wege sind unergründlich, dachte er. Doch nur für die, die nicht zu verstehen brauchen. Er sah erneut auf die Uhr. Es war wichtig, daß alles zusammenfiel, der Brand in Hurup und das, was hier vor dem Altar in der Kirche von Frennestad geschehen sollte. Noch einmal sah er Harriet Bolson an. Ein mageres Gesicht, vielleicht ausgezehrt, obwohl sie erst dreißig Jahre alt war. Aber die Sünde, die sie begangen hatte, mußte ihre Spuren hinterlassen, dachte er. Durch das Feuer kann sie gereinigt werden, nur so. Er löschte die Taschenlampe und trat ins Dunkel hinter der Treppe, die zur Kanzel hinaufführte. Aus dem Rucksack holte er das Tau, das Torgeir in einem Laden für Schiffsbedarf in Kopenhagen gekauft hatte. Er legte es neben den Altar. Noch einmal sah er zur Uhr. Es war soweit. Er trat neben den Altar und gab das Zeichen, daß alle sich erheben sollten. Nacheinander rief er sie nach vorn. Dem ersten gab er das eine Ende des Taus.
»Wir sind untrennbar zusammengebunden«, sagte er. »Vom heutigen Abend an werden wir nie mehr ein Tau benötigen. Wir sind verbunden durch unsere Treue zu Gott und zu unserem Auftrag. Wir können nicht länger tolerieren, daß unsere Welt, die christliche Welt, immer tiefer in Erniedrigung versinkt. In Feuer muß die Welt gereinigt werden, und wir müssen mit uns selbst beginnen.«
Während er die letzten Worte sprach, hatte er sich fast unmerklich bewegt und stand jetzt vor Harriet Bolson. Im selben Augenblick, als er das Seil um ihren Hals legte, begriff sie, was geschehen würde. Es war, als entleerte sich ihr Bewußtsein durch den plötzlichen Schrecken. Sie schrie nicht, leistete keinen Widerstand. Ihre Augen schlossen sich. Für Erik Westin waren all die Jahre des Wartens endlich vorüber.
Die Kirche in Hurup begann um Viertel nach neun zu brennen. Als die Feuerwehr auf dem Weg war, ging die Meldung ein, daß auch die Kirche in Frennestad in Flammen stand. Torgeir und die beiden Amerikaner waren schon eingetroffen. Torgeir übernahm das Steuer, und der Lastwagen verschwand zu dem neuen Versteck.
Erik Westin blieb im Dunkeln. Er stieg auf einen Hügel in der Nähe der Kirche von Frennestad.
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