Vor dem Frost
sich, bevor er fortfuhr. »Wir warten immer noch darauf, daß Informationen eingehen über die Person, die nach unseren Erkenntnissen Harriet Bolson ist. Während wir warten, gebe ich das Wort frei. Laßt mich vorher nur noch eine letzte Vermutung äußern. Es gibt ein wiederkehrendes Moment in dem, was geschehen ist. Ich habe das Gefühl, daß die brennenden Tiere vielleicht nicht sterben, weil ein Sadist seine Gelüste ausleben will. Vielleicht handelt es sich um eine Form von Opfer, mit einer wahnsinnigen Logik im Hintergrund. Wir haben Birgitta Medbergs abgeschlagene Hände und außerdem eine Bibel, mit der sich jemand hingesetzt hat, um sie umzuschreiben. Und jetzt etwas, was aussieht wie ein Ritualmord in einer Kirche. Wir haben eine Aussage, daß der Mann, der die Kleintierhandlung in Brand gesteckt hat, gerufen haben soll: ›Gott hat geforderte oder etwas Ähnliches. All das zusammengenommen kann auf eine religiöse Botschaft schließen lassen. Vielleicht eine Sekte, vielleicht ein paar einzelne Irre. Aber das bezweifle ich. Es gibt da eine Art Organisation der Brutalität. Auf mich macht es nicht den Eindruck, daß eine Einzelperson hinter dem Ganzen steckt. Aber sind es zwei oder tausend? Das wissen wir nicht. Deshalb möchte ich auch, daß wir uns die Zeit nehmen für eine unbefangene Diskussion, bevor wir weitermachen. Ich glaube, daß wir uns im Moment am schnellsten bewegen, wenn wir uns erlauben, einen Augenblick vollkommen still zu stehen.«
Doch die Diskussion kam gar nicht erst richtig in Gang. Die Tür des Sitzungszimmers wurde geöffnet, und eine Bürokraft sagte, es kämen Faxe von der amerikanischen Polizei über Harriet Bolson herein. Martinsson verließ das Zimmer und kehrte kurz darauf mit ein paar Papieren in der Hand zurück. Es gab auch ein unscharfes Porträt einer Frau. Kurt Wallander hielt seine kaputte Brille vors Gesicht und nickte: Das war sie. Die Tote war wirklich Harriet Bolson.
»Mein Englisch ist nicht so gut, wie es sein sollte«, sagte Martinsson und reichte die Papiere an Ann-Britt Höglund weiter, die zu lesen begann.
Linda hatte sich einen Block geschnappt, als sie in den Raum getreten war. Jetzt fing sie an, sich Notizen zu machen, ohne daß sie wußte, warum. Sie nahm an etwas teil, ohne eigentlich beteiligt zu sein. Doch sie ahnte, daß ihr Vater eine Aufgabe für sie hatte, die zu nennen er aus verschiedenen Gründen jedoch noch zögerte.
Ann-Britt Höglund stellte fest, daß die amerikanische Polizei gründliche Arbeit geleistet hatte. Doch das war vielleicht nicht so schwer gewesen, weil Harriet Bolson – oder Harriet Jane Bolson, wie sie eigentlich hieß – seit dem 12. Januar 1997 als
missing person
im Polizeiregister aufgeführt war. Damals hatte ihre Schwester Mary Jane Bolson sie bei der Polizeizentrale in Tulsa als vermißt gemeldet. Sie hatte seit über einer Woche vergeblich versucht, sie telefonisch zu erreichen. Mary Jane hatte sich daraufhin in ihren Wagen gesetzt und war dreihundert Kilometer von ihrem Wohnort nach Tulsa gefahren, wo ihre Schwester wohnte und als Bibliothekarin und Sekretärin eines privaten Kunstsammlers gearbeitet hatte. Mary Jane hatte die Wohnung ihrer Schwester verlassen vorgefunden. Auch an ihrem Arbeitsplatz war sie nicht. Sie schien spurlos verschwunden zu sein. Mary Jane und sämtliche Freunde von Harriet hatten sie als verschlossene, aber pflichtbewußte und freundliche Person beschrieben, die weder irgendein Suchtproblem noch andere dunkle Seiten zu haben schien, die ihr Verschwinden erklären konnten. Die Polizei in Tulsa hatte Nachforschungen angestellt und den Fall unter Beobachtung gehalten. Aber Tatsache war, daß in den vier Jahren, die seitdem vergangen waren, nichts ans Tageslicht gekommen war, was den Fall erklärte. Keine Spuren, kein Lebenszeichen, nichts.
»Ein Polizeiinspektor namens Clark Richardson wartet begierig darauf, ob wir bekräftigen können, daß die Frau, die wir gefunden haben, wirklich Harriet Jane ist. Er möchte natürlich über das weitere Geschehen auf dem laufenden gehalten werden.«
»Den Gefallen können wir ihm sofort tun«, sagte Kurt Wallander. »Sie ist es. Gar kein Zweifel. Gibt es wirklich keinerlei Theorie, warum sie verschwunden ist?«
Ann-Britt studierte weiter die Papiere. »Harriet Jane war ledig«, sagte sie. »Sie war sechsundzwanzig, als sie verschwand. Sie und ihre Schwester sind Töchter eines Methodistenpastors in Cleveland, Ohio – in der ursprünglichen
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