Vor dem Frost
er hielt ihre Hand fest, bis er sicher war, daß sie Brandblasen bekommen würde. Sie fing an zu weinen.
Er hob die Hand. »Gott fordert Wahrheit«, sagte er. »Du weißt, daß ich recht habe, wenn ich sage, daß dich etwas beunruhigt. Ich muß wissen, was es ist.«
Da erzählte sie, was Zebra gesagt hatte, als sie im Cafe gesessen hatten und der Junge auf dem Fußboden spielte. Er merkte, daß sie nicht sicher war, ob sie richtig handelte, die Schwäche war noch da, ihre Freundinnen waren immer noch wichtig. Er fand das nicht merkwürdig, es war eher verwunderlich, daß es so schnell gegangen war, sie zu verändern.
»Es ist richtig von dir, dies zu erzählen«, sagte er, als sie verstummt war, »und es ist gleichzeitig richtig, zu zeigen, daß du im Zweifel bist. Im Zweifel zu sein bedeutet, sich zu rüsten für den Kampf für die Wahrheit, sie nicht für selbstverständlich zu halten. Verstehst du, was ich dir sage?«
»Ja.«
Er sah sie an, lange, forschend. Sie ist meine Tochter, dachte er. Sie hat meine Ernsthaftigkeit geerbt.
Er blieb noch eine Weile und erzählte ihr von seinem Leben. Er wollte die große Lücke füllen, all die Jahre, die er fort gewesen war. Es würde ihm nie gelingen, sie dazu zu bewegen, ihm zu folgen, wenn er ihr nicht klarmachen konnte, daß seine Abwesenheit von Gott beschlossen worden war.
Das war meine Wüste,
sagte er mehrfach.
Ich wurde nicht dreißig Tage hinausgesandt, sondern vierundzwanzig Jahre.
Als er ihre Wohnung verließ, war er sicher, daß sie ihm folgen würde. Außerdem hatte sie ihm das Wichtigste von allem gegeben, die Möglichkeit, eine Sünderin zu strafen. Er drehte sich noch einmal um, als er auf die Straße trat. Hinter dem Küchenfenster ahnte er ihr Gesicht.
Torgeir wartete wie abgesprochen am Postamt. Sie hatten sich angewöhnt, für ihre Treffen stets öffentliche Plätze zu wählen. Das Gespräch war kurz. Bevor sie sich trennten, senkte Torgeir die Stirn und hielt sie ihm hin. Er fühlte mit den Fingerspitzen, daß sein Puls normal war. Es verwunderte ihn jedesmal von neuem, auch wenn er wußte, daß Gottes Hand ein Wunder gewirkt hatte, als es ihm gelungen war, Torgeir zu retten. Der zittrige, gebrochene Mann, den er in Cleveland aus der Gosse geholt hatte, war sein bester Organisator, sein erster Jünger geworden.
Sie trafen sich am selben Abend auf dem Parkplatz. Der Abend war mild, bewölkt, es würde zur Nacht hin wohl regnen. Der Lastwagen war gegen einen Bus ausgetauscht worden, den Torgeir bei einer Firma in Malmö gestohlen und mit einem anderen Nummernschild versehen hatte. Sie fuhren nach Osten, an Ystad vorbei, und gelangten auf Nebenstraßen nach Klavestrand. Sie hielten bei der Kirche, die auf einem Hügel lag. Das nächste Wohnhaus war vierhundert Meter entfernt, auf der anderen Seite der Straße nach Tomelilla. Niemand würde den Bus beachten, der dort abgestellt war. Torgeir schloß mit dem Schlüssel, den er beschafft hatte, die Kirchentür auf. Sie benutzten abgeblendete Taschenlampen, als sie Leitern aufstellten und die Fenster, die zur Straße wiesen, mit aufgeschnittenen schwarzen Plastiksäcken abdeckten. Dann entzündeten sie Kerzen am Altar. Ihre Schritte waren lautlos, das Schweigen vollkommen.
Torgeir kam zu ihm in die Sakristei, als er sich vorbereitete. Torgeir sagte, daß alles fertig sei.
»Ich lasse sie heute nacht warten«, sagte Erik.
Er reichte Torgeir das Tau. »Leg es vor den Altar. Das Tau flößt Furcht ein. Die Furcht flößt Treue ein.«
Torgeir ließ ihn allein.
Er saß am Tisch des Pastors, vor sich eine brennende Kerze. Wenn er die Augen schloß, meinte er, wieder zurück im Dschungel zu sein. Jim Jones kam von seiner Hütte herüber, der einzigen, die über einen Generator für elektrischen Strom verfügte. Jim war immer ordentlich gekämmt. Die Zähne weiß, das Lächeln wie eine ins Gesicht geschnittene Öffnung. Jim war ein schöner Engel, dachte er. Auch wenn er ein gefallener Engel war, ein schwarzer Engel. Ich kann nicht verhehlen, daß es Augenblicke zusammen mit ihm gab, in denen ich vollkommen glücklich war. Ich kann auch nicht verhehlen, daß ich das, was ich von Jim bekam, oder das, was ich mir von ihm erträumte, daß ich das jetzt den Menschen geben will, die mir folgen. Ich habe den gefallenen Engel gesehen, ich weiß, was ich tun muß.
Er legte die Arme auf den Tisch und ließ den Kopf darauf ruhen. Sie sollten dort draußen sitzen und auf ihn warten. Das Tau vor dem Altar war eine
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