Vor dem Frost
konnte er sich über große Entfernungen bewegen, als ob er flöge. Jetzt waren sie lange weg gewesen. Sie hatten in dem großen Dunkel, das über der Erde lag, überwintern müssen. Aber das Licht war nie ganz erloschen. Es war ihnen gelungen, das Licht im Dunkeln am Leben zu erhalten, sie hatten gesehen, daß dort, weit drinnen in den tiefsten und dunkelsten Grotten, die Wahrheit wartete. Jetzt waren sie zurückgekehrt. Sie waren der erste Vogelschwarm, der nach Hause zurückkehrte. Bald würden andere Schwärme folgen. Der Himmel würde bedeckt sein von Zugvogelschwärmen, und jetzt gab es nichts mehr, was sie aufhalten konnte. Gottes Reich auf Erden würde wieder errichtet werden. Sie hatten eine lange Zeit heiliger Kriege vor sich. Gottes Reich sollte von innen heraus erbaut werden. Der erste Schritt war, die Verräter zu entlarven, die sich im Tempel versammelt hatten. Sie würden die gottlosen Häuser niederreißen und von vorn anfangen. Später würden die Kriege gegen die falschen Götter beginnen, die die Welt besudelten. Die Zeit war reif, jetzt würden sie den ersten Schritt tun.
Sie warteten bis zum Morgengrauen in der Kirche. Torgeir stand draußen, ein einsamer Wachposten in dieser, der letzten Stunde der alten Zeit, dachte er. Als sich der erste Streifen grauen Lichts am Horizont zeigte, kam Torgeir zurück in die Kirche. Er sammelte die Masken wieder ein und legte sie in den Koffer.
Der 8. September war der Tag, den er ausersehen hatte. Auch das war ein Traum. Er hatte sich in einer verlassenen Fabrik befunden, Regenwasser und braunes Laub hatten sich auf dem Fußboden gesammelt. An einer Wand hing ein Kalender. Als er erwachte, konnte er sich erinnern, daß das Datum im Traum der 8. September war. Der Tag, an dem alles endet und alles von neuem beginnt.
Im Licht der Dämmerung betrachtete er ihre blassen, verschlossenen Gesichter. Ich sehe Augen, die mich sehen, dachte er. In mir sehen sie, was ich zu sehen glaubte, als ich vor Jim Jones stand. Der Unterschied ist nur, daß ich wirklich der bin, für den ich mich ausgebe. Ich bin der auserwählte Heerführer. Er suchte nach Zeichen, konnte jedoch nicht entdecken, daß einer von ihnen zu zweifeln schien.
Er trat einen Schritt näher und begann wieder zu sprechen. »Die Zeit des Aufbruchs ist gekommen. Die Zugvögel sind gelandet. Ich hatte nicht gedacht, daß wir uns vor dem Tag sehen, an dem ihr euren großen Auftrag ausführen sollt. Aber heute nacht hat Gott zu mir gesprochen und gesagt, daß noch ein Opfer gebracht werden muß. Wenn wir uns das nächste Mal treffen, wird noch ein Sünder sterben.«
Er griff nach dem Tau und hob es über seinen Kopf. »Wir wissen, was von uns gefordert wird«, fuhr er fort. »Die alten Bücher lehren uns, daß die Strafe Aug um Auge und Zahn um Zahn sein soll. Wer tötet, muß selbst sterben. Wir dürfen keinem Zweifel in uns Raum geben. Gottes Atem ist aus Stahl, er fordert Härte von uns. Wir sind wie die Schlangen, die nach dem langen Winterschlaf aufgetaut sind. Wir sind wie die Eidechsen, die sich hastig in den Felsspalten bewegen und die Farbe wechseln, wenn sie bedroht sind. Auf keine andere Weise als durch Hingabe und Härte werden wir die Leere besiegen können, die die Menschen erfüllt. Die große Finsternis, die lange Zeit des Verfalls und der Ohnmacht, ist endlich vorbei.«
Er verstummte und sah, daß sie verstanden. Er schritt an der Reihe entlang und strich mit der Hand über ihre gesenkten Stirnen. Er gab das Zeichen, daß sie sich erheben sollten. Gemeinsam sprachen sie die heiligen Worte. Er hatte ihnen erzählt, daß die Worte in einer Offenbarung zu ihm gekommen waren. Sie brauchten nicht zu wissen, daß er sie in Wahrheit in seiner Jugend irgendwo gelesen hatte. Oder waren die Worte vielleicht trotzdem in einem Traum zu ihm gekommen? Er wußte es nicht, und es war auch nicht wichtig.
Befreit und von mächtiger Schwingen Gebraus emporgehoben zum Licht
Mit ihm wir verschmelzen und werden zu Licht von seinem heiligen Licht.
Danach verließen sie die Kirche, schlossen ab und bestiegen den Bus. Eine Frau, die am Nachmittag zum Putzen kam, merkte nicht, daß jemand dagewesen war.
Teil 4
DER DREIZEHNTE TURM
Linda erwachte vom Klingeln des Telefons. Sie sah auf den Wecker. Viertel vor sechs.
Aus dem Badezimmer kamen Geräusche. Ihr Vater war schon aufgestanden, hörte aber das Telefon nicht. Sie lief in die Küche und nahm ab.
Es war eine Frauenstimme, die sie nicht kannte. »Erreiche ich
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