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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Erinnerung an die Furcht, die sie vor ihm empfanden. Wenn Gottes Wege unergründlich waren, mußten es auch die seines irdischen Meisters sein. Er wußte, daß Torgeir nicht wieder hereinkommen würde. Er begann zu träumen, sich langsam in den Traum zu versenken. Es war wie ein Abstieg in die Unterwelt, eine Unterwelt, in der die Hitze des Dschungels durch die kalten Steinwände der schonischen Kirche drang. Er dachte an Maria und das Kind; er schlief.
    Es war vier Uhr am Morgen, als er mit einem Ruck erwachte. Zuerst wußte er nicht, wo er sich befand. Er stand auf und lockerte seinen von der unbequemen Stellung steif gewordenen Körper. Dann wartete er einige Minuten und betrat die Kirche. Sie saßen in den vordersten Bänken aufgereiht, steif, verängstigt, wartend. Er blieb stehen und sah sie an, bevor sie ihn bemerkten. Ich könnte sie alle töten, dachte er. Ich könnte sie dazu bringen, sich die Hände abzuhacken und sich selbst zu essen. Immer noch habe ich auch diese Schwäche, dachte er. Nicht nur meine Erinnerungen sind meine Schwäche. Auch daß ich nicht wirklich wage, den Menschen, die meine Gefolgsleute sind, ganz zu vertrauen. Ich fürchte die Gedanken, die sie, wie ich glaube, haben, die Gedanken, die ich nicht kontrollieren kann. Er stellte sich vor den Altar. In dieser Nacht würde er von den Zugvögeln sprechen. Er würde jetzt anfangen, von dem großen Auftrag zu sprechen, der auf sie wartete, dem Grund dafür, daß sie die lange Reise nach Schweden gemacht hatten. Heute nacht würde er die ersten Worte dessen aussprechen, was das fünfte Evangelium werden würde.
    Er nickte Torgeir zu, der den braunen heiligen Koffer öffnete, der am Boden neben dem zusammengerollten Tau stand. Es war ein alter Koffer mit verzierten Eisenbeschlägen. Torgeir ging an der Reihe von Menschen vorbei und teilte die Totenmasken aus. Sie waren weiß wie die Masken der Pantomime, ganz befreit vom Ausdruck der Freude oder der Trauer.
    Die Idee mit den Masken war ihm eines Nachmittags bei einer Offenbarung gekommen, als er an Sue-Marys Sterbebett gewacht hatte. Er hatte ihr Gesicht betrachtet. Sie schlief, der Kopf war ins Kissen gesunken. Plötzlich war ihm, als verwandelte es sich in eine Maske, ein weißes, erstarrtes Gesicht. Gott schuf den Menschen zu seinem Ebenbild, dachte er, aber niemand kennt Gottes Gesicht. Unsere Leben sind sein Atem, die Luft, die wir atmen. Aber niemand kennt sein Gesicht. Die weiße Maske müssen wir tragen, um uns selbst auszulöschen und in ihm aufzugehen, in ihm, der uns erschaffen hat.
    Er sah, wie sie die Masken anlegten. Er wurde stets vom gleichen Gefühl der Kraft und der Macht erfüllt, wenn er sah, wie sie ihre Gesichter verbargen.
    Als letzter von allen legte Torgeir die Maske an. Der einzige, der keine Maske trug, war er selbst.
    Auch das hatte er von Jim gelernt. In der ersten Zeit war es vorgekommen, daß eine der Frauen, die mit Jim lebten und seine Dienerinnen waren, mitten in der Nacht zur Hütte kam und ihn weckte und sagte, daß Jim mit ihm sprechen wolle. Er sprang aus dem Bett, schlaftrunken und auch ein bißchen ängstlich. Er fürchtete Jim, fühlte sich in seiner Nähe immer klein und unbedeutend. Jim pflegte in einer Hängematte auf seiner Veranda zu sitzen, die mit Mückennetzen verhängt war. Neben ihm stand ein Stuhl, auf dem seine Gäste Platz nahmen. In der Dunkelheit begann Jim von all dem zu sprechen, was geschehen würde. Niemand wagte es, seine Monologe, die oft erst endeten, wenn die Sonne aufging, zu unterbrechen. In einer dieser Nächte, als er Jim noch liebte und nie etwas anderes hätte glauben können, als daß dieser Mann Gottes Diener war, hatte Jim gesagt, daß der Lehrer immer daneben stehen müsse. Die Jünger müssen immer wissen, wo der Meister sich befindet. Er ist der einzige, der keine Maske tragen soll.
    Er trat vor sie. Der Augenblick, auf den er so lange gewartet hatte, war da. Er faltete die Hände und drückte den rechten Daumen an die Adern des linken Handgelenks. Sein Puls war normal. Alles war unter Kontrolle. Einmal wird diese Kirche ein Wallfahrtsort werden, dachte er. Die ersten Christen, die in Roms Katakomben starben, sind zurückgekehrt. Die Zeit der gefallenen Engel ist endlich vorüber. Eine Religion, die lange geschlafen hat, betäubt von all dem vergifteten Glauben, der den Menschen in die Adern gespritzt worden ist, ist wieder zum Leben erweckt worden.
    Er sprach von den Zugvögeln. Der Mensch hatte keine Flügel. Dennoch

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