Vor dem Frost
dampfenden Morast zurückgeblieben und verfault waren, den der wahnsinnige Jim Jones zum Paradies auserwählt hatte. Er spürte zuweilen eine brennende Sehnsucht nach den beiden Toten und empfand zugleich eine Schuld, weil er sie nicht hatte retten können.
Gott hat diese Opfer gefordert, um mich auf die Probe zu stellen, dachte er. Im Gesicht seiner Tochter sah er auch Sue-Mary in Cleveland, er sah den alten Mann in Caracas, der über seine Papiere gewacht hatte. Er sah die beiden Leben, die er durchschritten hatte, und der Boden unter seinen Füßen fühlte sich erst wieder fest an, wenn all diese Bilder vorübergezogen waren. ›Deine Erinnerungen sollen sein wie ein Vogelzug, der sich mit lautlosen Schwingen über den Himmel bewegt‹, hatte Gott gesagt. ›Du siehst sie kommen und du siehst sie verschwinden. Mehr ist die Erinnerung nicht.‹ Er traf seine Tochter zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten. Seit dem Tag, an dem er sich ihr gezeigt hatte und aus seiner Unsichtbarkeit getreten war, hatte er ständig darüber gewacht, daß sie ihm nicht wieder abhanden kam. Oft hatte er sie überrascht. Einmal hatte er ihr Auto gewaschen, gerade als sie sich wiedergefunden hatten. Er hatte einen Brief an ihre Adresse in Lund geschickt, als er sie im Versteck hinter der Kirche in Lestarp treffen wollte. Manchmal hatte er ihre Wohnung benutzt, um wichtige Telefonate zu führen, und einmal hatte er sogar dort übernachtet.
Einst habe ich sie verlassen, hatte er gedacht. Jetzt muß ich der Stärkere sein, damit sie mich nicht verläßt. Er hatte zunächst mit der Möglichkeit gerechnet, daß sie ihm nicht würde folgen wollen. Dann hätte er sich wieder unsichtbar gemacht. Doch schon nach den drei ersten Tagen hatte er erkannt, daß er sie zu einer der Auserwählten machen könnte. Was ihn vor allem anderen überzeugte, das war der eigenartige Zufall, daß seine Tochter die Frau kannte, die Torgeir, als sie eins der geheimen Verstecke entdeckte, getötet hatte. Da hatte er begriffen, daß sie in all den Jahren seiner Abwesenheit auf ihn gewartet hatte.
Jetzt traf er sie erneut, diesmal in ihrer Wohnung. Mehrmals hatte er die Wohnung besucht, ohne daß sie davon wußte. Einmal hatte er auch dort geschlafen. Sie stellte einen Blumentopf ins Fenster als Zeichen, daß er hereinkommen konnte. Aber ein paarmal hatte er die Tür mit den Schlüsseln, die sie ihm gegeben hatte, aufgeschlossen, ohne sich um den Blumentopf zu kümmern. Gott sagte ihm, wann er ohne Risiko die Welt seiner Tochter besuchen konnte. Er hatte ihr erklärt, wie wichtig es war, daß sie sich ihren Freundinnen gegenüber wie immer verhielt. Nach außen hin war nichts geschehen, sagte er. Der Glaube wächst in dir bis zu dem Tag, an dem ich sagen kann, daß er aus deinem Körper hervortreten soll.
Jedesmal wenn er sie traf, tat er, was Jim Jones ihn gelehrt hatte – das einzige, was in seiner Erinnerung nicht von Verrat und Haß beschmutzt war. Man sollte immer auf den Atem eines Menschen hören. Vor allem sollte man bei denjenigen genau hinhören, die neu waren und sich vielleicht noch nicht ganz in Demut gebeugt und ihr Leben in die Hände des Führers gelegt hatten.
Er betrat die Wohnung, sie fiel im Flur auf die Knie, und er legte seine Hand auf ihre Stirn und flüsterte die Worte, die sie nach Gottes Willen hören sollte. Gleichzeitig tastete er vorsichtig mit den Fingerspitzen nach einer Ader, an der er ihren Puls fühlen konnte. Sie zitterte, hatte aber jetzt weniger Angst. Es begann, natürlich für sie zu werden, all das, was ihr Leben veränderte.
»Ich bin hier«, flüsterte er.
»Ich bin hier«, antwortete sie.
»Was sagt der Herr?«
»Er fordert meine Anwesenheit.«
Er streichelte ihre Wange. Sie standen auf und gingen in die Küche. Sie hatte das Essen, das er sich wünschte, auf den Tisch gestellt, Salat, Knäckebrot, zwei Stück Fleisch. Er aß langsam und schweigend. Als er fertig war, trug sie die Schale mit Wasser herbei, wusch seine Hände und gab ihm eine Tasse Tee. Er sah sie an und fragte, wie es ihr seit ihrem letzten Treffen ergangen sei. Besonders ihre Freundinnen interessierten ihn, vor allem die junge Frau, die nach ihr gesucht hatte.
Er hatte nur eben einen Schluck Tee getrunken und ihren ersten Worten gelauscht, als er spürte, daß sie nervös war. Er sah sie an und lächelte. »Was quält dich?«
»Nichts.«
Er faßte ihre Hand und drückte zwei ihrer Finger in den heißen Tee. Sie zuckte zusammen, doch
Weitere Kostenlose Bücher