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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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albern geschmeichelt, als Stefan Lindman sie als Kollegin vorstellte. Hakan Holmberg servierte Kaffee und setzte einen alten Strohhut auf.
    Er bemerkte, daß Linda neugierig die etwas mitgenommene Kopfbedeckung betrachtete. »Das ist einer der wenigen Diebstähle, die ich begangen habe«, sagte er. »Ich verreise jedes Jahr ins Ausland. Vor ein paar Jahren war ich in der Lombardei. Eines Nachmittags befand ich mich irgendwo in der Nähe von Mantua, wo ich ein paar Tage verbrachte, um das Andenken des großen Vergil zu ehren, der dort geboren wurde. Auf einem Acker sah ich eine Vogelscheuche. Welche Beeren oder Früchte sie gegen Vögel schützen sollte, weiß ich nicht. Ich blieb stehen und dachte, daß ich zum erstenmal in meinem Leben Lust bekam, eine kriminelle Handlung zu begehen. Ich wollte mich kurz und gut in einen diebischen Schmied verwandeln. Also schlich ich mich hinaus auf den Acker und stahl der Vogelscheuche den Hut. Manchmal träume ich nachts, daß es keine Vogelscheuche war, sondern ein lebendiger Mensch, der reglos da auf dem Acker stand. Er muß verstanden haben, daß ich ein harmloser und hasenfüßiger Mensch war, der in seinem Leben nie wieder etwas von einem Mitmenschen stehlen würde. Deshalb ließ er sich aus Erbarmen bestehlen. Vielleicht war es ein zurückgebliebener Franziskanermönch, der in der verzweifelten Hoffnung, eine gute Tat tun zu können, da draußen auf dem Acker stand? Auf jeden Fall war es ein großes und umwälzendes Erlebnis, diese Tat zu begehen.«
    Linda schielte zu Stefan Lindman hinüber und fragte sich, ob er wohl wußte, wer Vergil war. Und Mantua? Wo lag das? War es eine Landschaft oder eine Stadt? Es mußte in Italien sein. Wäre Zebra in der Nähe, sie hätte die Antwort gewußt. Sie konnte Stunden damit verbringen, in ihren Atlanten zu schwelgen.
    »Die Schlüssel«, sagte Stefan Lindman. »Erzählen Sie.«
    »Da ist nicht so viel zu erzählen, außer daß es reiner Zufall war, daß ich überhaupt auf die abgebrannten Kirchen aufmerksam wurde.«
    »Wie sollte man denn nicht auf sie aufmerksam werden?« fragte Stefan verwundert. »Es waren doch die wichtigsten Nachrichten in den Medien.«
    Hakan Holmberg schaukelte auf seinem Stuhl und holte eine Pfeife aus der Brusttasche seines blauen Overalls. »Indem man weder Fernsehen schaut noch Zeitung liest oder Radio hört«, antwortete er, nachdem er die Pfeife angezündet hatte. »Manche Menschen geben sich selbst ein paar weiße Wochen im Jahr, in denen sie keinen Alkohol trinken. Das ist bestimmt vernünftig. Ich meinerseits habe ein paar Wochen im Jahr, Sie können sie weiß oder schwarz nennen, in denen ich der Umwelt keinerlei Interesse widme. Nachher, wenn ich dieses Informationszölibat beendet habe, zeigt sich immer, daß ich nichts von Bedeutung verpasst habe. Wir leben unter einem Platzregen von Fehlinformation, Gerüchten und sehr wenigen entscheidenden Neuigkeiten. In meinen abstinenten Wochen suche ich Zugang zu einer anderen Form von Information, der, die ich in mir selbst trage.«
    Linda fragte sich, ob Hakan Holmberg beabsichtigte, alle seine Antworten zu Vorlesungen auszuweiten. Gleichzeitig konnte sie nicht umhin anzuerkennen, daß er sich gut ausdrückte, er hatte eine Sprachgewandtheit, um die sie ihn beneidete, alle diese Wörter, die sich ganz selbstverständlich einstellten, wenn er sie brauchte.
    Stefan Lindman wirkte nicht ungeduldig. »Es war also ein Zufall«, sagte er.
    »Einer meiner Kunden kam, um einen Schlüssel zu einer alten Seemannskiste abzuholen, die im 19. Jahrhundert einem Schiff der Admiralität der britischen Flotte gehört hatte. Er erzählte mir von den Bränden und von der Vermutung der Polizei, daß Schlüsseldubletten benutzt worden seien. Da erinnerte ich mich, daß ich ein paar Monate zuvor zwei Schlüssel nach Vorlagen gemacht hatte, die gut und gern von Kirchentüren gewesen sein konnten. Ich sage nicht, daß es so sein muß. Aber ich hatte den Verdacht.«
    »Warum?«
    »Erfahrung. Kirchenschlüssel haben häufig ein bestimmtes Aussehen. Außerdem gibt es heutzutage nicht so viele andere Türen, die noch mit den Schlössern und Schlüsseln der alten Meister bedient werden. Ich entschloß mich also, die Polizei anzurufen.«
    »Und wer hat die Schlüssel bestellt?«
    »Er stellte sich als Lukas vor.«
    »Nur das?«
    »Ja. Herr Lukas. Er war sehr freundlich. Es war eilig, und er bezahlte einen ordentlichen Vorschuß.«
    Stefan Lindman holte ein Paket aus der Tasche. Als er

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