Vor dem Frost
Widerstand zu leisten.
Er entdeckte ihre geschwollene Lippe. »Was hast du gemacht?«
»Ich bin gestolpert, als ich herkam.«
Er schüttelte den Kopf. Dann fing er an zu lachen. Seine normalerweise finstere Laune hatte dazu geführt, daß Linda oft versuchte, seine Gesellschaft zu meiden. Aber sosehr sie sich freute, wenn er guter Stimmung war, so schwer fiel es ihr, sein Lachen zu ertragen; es klang wie ein Wiehern und war außerdem viel zu laut. Wenn sie irgendwo draußen waren und er anfing zu lachen, drehten sich immer alle Leute nach ihnen um, um zu sehen, wer solche Geräusche hervorbrachte.
»Was ist daran so lustig?«
»Dein Großvater war ein stolpernder Mensch. Ich weiß nicht, wie oft ich ihn über Farbdosen, alte Rahmen und all das Gerümpel, mit dem er sich umgab, habe stolpern sehen. Ich weiß noch, daß Gertrud versuchte, ihm im Atelier Wege zu markieren. Aber es dauerte nur einen Tag, bis er von neuem auf der Nase lag.«
»Also habe ich es von ihm geerbt.«
Er warf den Bleistift auf den Tisch und nahm die Füße herunter.
»Hast du in Lund angerufen? Ihre Freunde? Irgendwo muß sie sein.«
»Nirgendwo, wo wir sie finden. Ich brauche sie nicht telefonisch zu jagen.«
»Du hast es aber aufjeden Fall auf ihrem Handy versucht?«
»Sie hat keins.«
Er war sofort interessiert. »Warum nicht?«
»Sie will nicht.«
»Gibt es noch einen anderen Grund?«
Linda sah ein, daß seine Fragen einen Sinn hatten, der nicht nur Ausdruck einer allgemeinen Neugier war. Sie hatten ein paar Wochen zuvor darüber gesprochen, als sie zusammen zu Abend gegessen und noch spät auf dem Balkon gesessen hatten. Sie hatten die Gegenwart mit der Zeit vor zehn und vor zwanzig Jahren verglichen. Er hatte behauptet, die beiden größten Unterschiede bestünden in etwas, was hinzugekommen war, und etwas, was verschwunden war. Er ließ sie raten. Daß es sich bei dem Hinzugekommenen um das Mobiltelefon handelte, konnte sie leicht raten. Aber es war schwerer für sie, darauf zu kommen, daß so viel weniger Menschen heute rauchten als früher.
»Alle haben ein Handy«, sagte er. »Besonders die Jugendlichen. Aber Anna Westin nicht. Wie erklärst du das? Wie erklärt sie das?«
»Ich weiß es nicht. Henrietta zufolge sagt sie nur, daß sie nicht jederzeit erreichbar sein will.«
Er dachte nach. »Bist du sicher, daß das stimmt? Daß sie nicht doch ein Handy hat, von dem du nichts weißt?«
»Wie soll ich da sicher sein?«
»Ja, eben.«
Er beugte sich über das Haustelefon und bat Ann-Britt Höglund, herüberzukommen. Eine halbe Minute später stand sie in der Tür. Linda fand, daß sie müde und ungepflegt aussah, ihr Haar war unordentlich und die Bluse fleckig. Linda mußte an Vanja Jorner denken. Fehlte bloß noch, daß Ann-Britt Höglund auch so dick wäre wie Birgitta Medbergs Tochter.
Linda hörte, wie ihr Vater Ann-Britt bat, zu prüfen, ob ein Handy auf den Namen Anna Westin angemeldet war, und sie ärgerte sich, daß sie nicht selbst darauf gekommen war.
Ann-Britt Höglund verschwand. Als sie das Zimmer verließ, gab sie Linda ein Lächeln, das eher einer Grimasse glich.
»Sie mag mich nicht«, sagte Linda.
»Wenn ich mich recht erinnere, warst du früher auch nicht begeistert von ihr. Das gleicht sich wohl aus. Auch in einem kleinen Polizeipräsidium wie diesem können sich nicht alle leiden.«
Er stand auf. »Kaffee?« fragte er.
Sie gingen in den Eßraum, wo er sofort in eine gereizte Auseinandersetzung mit Nyberg geriet. Linda verstand nicht, worüber sie uneins waren.
Martinsson kam herein und wedelte mit einem Blatt Papier. »Ulrik Larsen«, sagte er. »Der dich in Kopenhagen überfallen hat und berauben wollte.«
»Nein«, erwiderte Linda. »Ich bin nie von jemandem überfallen worden, der mich berauben wollte. Dagegen von einem Mann, der mir gedroht und gesagt hat, es sei nicht passend, herumzulaufen und nach einem Mann namens Torgeir Langaas zu fragen.«
»Genau das wollte ich gerade sagen«, gab Martinsson zurück. »Ulrik Larsen hat seine Geschichte widerrufen. Das Problem ist nur, daß er keine neue vorweisen kann. Er lehnt es ab zuzugeben, daß er dich bedroht hat. Er behauptet, er kenne niemanden namens Langaas. Die dänischen Kollegen sind überzeugt davon, daß er lügt. Aber sie kriegen nichts aus ihm raus.«
»Ist das alles?«
»Nicht ganz. Aber ich will, daß Kurre den Schluß auch hört.«
»Nenn ihn bloß nicht so, wenn er es hört«, warnte Linda ihn. »Er haßt es, wenn er
Weitere Kostenlose Bücher