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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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wieder an. Sie fuhr zu Henrietta hinaus. Es war windig geworden, der Wind war kalt, als sie aus dem Wagen stieg und zum Haus ging. Sie schaute hinüber zu der Stelle, wo sie in die Fuchsfalle getreten war. Ein Stück entfernt, auf einem der Feldwege, die sich zwischen den schonischen Wiesen und Äckern dahinschlängeln, stand ein Mann und verbrannte Müll neben seinem geparkten Auto. Der Rauch wurde von den Windböen verweht.
    Wieder bekam Linda das Gefühl, daß der Herbst nahe war. Jetzt kam bald der Frost. Sie betrat den Hof und klingelte an der Haustür. Der Hund begann zu bellen. Sie holte tief Luft und schüttelte die Arme aus, als bereite sie sich darauf vor, in Startblöcke zu treten. Henrietta machte auf. Sie lächelte. Linda war sofort auf der Hut; Henrietta schien sie erwartet zu haben, zumindest war sie nicht im geringsten verwundert. Linda registrierte auch, daß sie geschminkt war, als habe sie sich für jemanden feingemacht oder versuche zu verbergen, daß sie blaß war.
    »Unerwarteter Besuch«, sagte Henrietta und trat zur Seite.
    Ganz im Gegenteil, dachte Linda.
    »Du bist immer willkommen. Komm rein und setz dich.«
    Der Hund beschnüffelte sie und legte sich dann in seinen Korb. Linda hörte jemanden seufzen. Sie blickte sich um, doch es war niemand zu sehen. Das Seufzen schien direkt aus den dicken Steinwänden zu kommen. Henrietta stellte eine Thermoskanne und zwei Tassen auf den Tisch.
    »Was ist das, was man da hört?« fragte Linda. »Sind es Menschen, die seufzen?«
    »Ich höre mir gerade eine meiner ältesten Kompositionen an. Sie ist von 1987, ein Konzert für vier seufzende Stimmen und Schlagzeug. Paß jetzt mal auf!«
    Sie hatte die Thermoskanne abgestellt und die Hand erhoben.
    Linda lauschte. Es war eine einzelne Stimme, die seufzte, eine Frauenstimme.
    »Das ist Anna«, sagte sie. »Ich konnte sie dazu bringen mitzumachen. Sie seufzt sehr melodisch. Man könnte an ihre Trauer und Hinfälligkeit glauben. Wenn sie redet, ist immer ein leichtes Zweifeln in ihrer Stimme. Wenn sie seufzt, nie.«
    Linda hörte weiter zu. Der Gedanke, seufzende Stimmen aufzunehmen und sie zu einer Art von Musik zusammenzufügen, hatte für sie etwas Gespenstisches.
    Eine dröhnende Trommel unterbrach ihren Gedanken. Henrietta ging zum Tonbandgerät und schaltete es ab. Sie setzten sich. Der Hund hatte angefangen zu schnarchen.
    Es war, als riefe das Geräusch Linda in die Wirklichkeit zurück. »Weißt du, wo Anna ist?«
    Henrietta betrachtete ihre Fingernägel, dann sah sie Linda an. Linda ahnte eine Unsicherheit in ihrem Blick. Sie weiß es, dachte Linda. Sie weiß es, und sie ist bereit, abzustreiten, daß sie es weiß.
    »Es ist sonderbar«, sagte Henrietta. »Jedesmal enttäuschst du mich. Ich glaube, daß du kommst, um mich zu besuchen. Aber alles, was du willst, ist, daß ich dir sagen soll, wo sich meine Tochter befindet.«
    »Weißt du, wo sie ist?«
    »Nein.«
    »Wann hast du zuletzt mit ihr gesprochen?«
    »Sie hat mich gestern angerufen.«
    »Von wo?«
    »Von zu Hause.« »Nicht von einem Handy?«
    »Sie hat keins, wie du bestimmt weißt. Sie gehört zu den Menschen, die der Versuchung widerstehen, jederzeit erreichbar zu sein.«
    »Sie war also zu Hause?«
    »Ist dies ein Verhör?«
    »Ich möchte wissen, wo Anna ist. Ich möchte wissen, was sie tut.«
    »Ich weiß nicht, wo sich meine Tochter befindet. Vielleicht ist sie in Lund? Sie studiert Medizin, wie du vielleicht weißt.«
    Zur Zeit nicht, dachte Linda. Es kann sein, daß Henrietta nicht weiß, daß Anna ihr Medizinstudium mit großer Sicherheit aufgegeben hat. Es kann ein Trumpf sein, den ich auf den Tisch knalle. Doch später, jetzt noch nicht.
    Linda entschied sich für einen anderen Weg. »Kennst du Zebra?«
    »Du meinst Lill Zeba?«
    »Wir nennen sie Zebra. Sie ist weg. Einfach verschwunden, so wie Anna verschwunden war.«
    Kein Zucken, keine Miene verriet, daß Henrietta etwas wußte. Linda kam sich vor, als sei sie im Ring in der Offensive gewesen, aber plötzlich durch einen Zufallstreffer zu Boden gegangen. Es war ihr einmal in der Zeit an der Polizeihochschule passiert, sie hatten geboxt, und Linda hatte plötzlich auf dem Boden gesessen und nicht gewußt, wie sie dort gelandet war.
    »Vielleicht kommt sie genauso zurück, wie Anna zurückgekommen ist.«
    Linda ahnte die Blöße mehr, als daß sie sie klar vor sich sah. Sie ging mit erhobenen Fäusten direkt drauflos. »Warum hast du nie die Wahrheit gesagt? Daß du wußtest,

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