Vor dem Frost
tun?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich habe Angst.«
»Angst wovor?«
»Daß jemand Zebra tötet. Daß so etwas geschieht, und daß Anna darin verwickelt ist.«
Etwas in Henriettas Gesicht veränderte sich. Linda konnte nicht sagen, was. Es huschte vorbei, kurz, schnell, doch Linda bemerkte es. Sie dachte, daß sie nun nicht weiterkam. Sie bückte sich nach ihrer Jacke, die auf dem Fußboden lag. Auf dem Tisch daneben stand ein Spiegel. Linda warf einen Blick hinein und fing Henriettas Gesicht ein. Sie sah nicht Linda an, sondern an ihr vorbei. Ihr Blick war flüchtig, dann sah sie Linda wieder an.
Linda nahm ihre Jacke. Gleichzeitig erkannte sie, wohin Henrietta geschaut hatte.
Zum Fenster, das angelehnt war.
Linda stand auf, zog die Jacke an und wandte das Gesicht zum Fenster. Da draußen war niemand. Aber sie war sich sicher, daß jemand dort gewesen war. Sie hielt inne, den einen Arm im Ärmel der Jacke. Henriettas laute Stimme, das wie zufällig geöffnete Fenster, die Wiederholungen der Namen, die Linda genannt hatte, und Henriettas Beteuerung, sie nicht zu kennen. Linda zog die Jacke an. Sie wagte nicht, Henrietta anzusehen, weil sie befürchtete, das, was sie jetzt verstanden hatte, könnte in ihrem Gesicht geschrieben sein.
Linda ging rasch zur Haustür und streichelte den Hund.
Henrietta kam ihr nach. »Es tut mir leid, daß ich dir nicht helfen kann.«
»Du kannst schon«, erwiderte Linda. »Aber du ziehst es vor, es nicht zu tun.«
Linda öffnete die Tür und ging. Als sie um die Hausecke gebogen war, blieb sie stehen und sah sich um. Ich sehe niemanden, dachte sie. Aber jemand sieht mich. Jemand hat mich gesehen, und vor allem hat jemand gehört, was Henrietta gesagt hat. Sie hat meine Worte wiederholt, und die Person vor dem Fenster weiß jetzt, was ich weiß, und zugleich, was ich glaube und was ich befürchte.
Sie eilte zum Wagen. Sie hatte Angst. Gleichzeitig dachte sie, daß sie wieder einen Fehler gemacht hatte. In dem Moment, als sie in der Tür stand und den Hund streichelte, hätte sie ernsthaft anfangen müssen, Henrietta ihre Fragen zu stellen. Statt dessen war sie gegangen.
Sie fuhr davon und sah häufig in den Rückspiegel. Nach zwanzig Minuten fuhr sie auf den Parkplatz des Polizeipräsidiums. Der Wind war stärker geworden. Sie duckte sich dagegen, als sie zum Eingang des Präsidiums hastete.
Unmittelbar hinter der Schwelle stolperte Linda und schlug sich die Lippe auf, als sie mit dem Gesicht auf den Steinfußboden fiel. Einen kurzen Moment war ihr schwindelig, dann stand sie auf und winkte ab, als die Frau aus der Anmeldung ihr zu Hilfe eilen wollte. Ihre Hand blutete, und sie ging in den Umkleideraum mit den Toiletten. Sie wusch sich das Gesicht und wartete, bis die Lippe aufhörte zu bluten. Als sie wieder in die Anmeldung zurückkam, begegnete ihr Stefan Lindman, der gerade hereinkam.
Er betrachtete sie amüsiert. »Die blau geschlagene Familie«, sagte er. »Dein Vater behauptet, gegen eine Tür gelaufen zu sein. Was ist es bei dir gewesen? Dieselbe Tür? Wie sollen wir euch nennen, wenn wir euch wegen des gleichen Nachnamens auseinanderhalten wollen? Das Veilchen und die Wulstlippe?«
Linda prustete los. Sofort platzte die Wunde an der Lippe wieder auf. Sie ging zurück zur Toilette und holte Papier. Dann gingen sie beide durch die Türen in den Bürokorridor.
»Ich habe ihm einen Aschenbecher an den Kopf geworfen. Das war keine Tür.«
»Man kennt dieses Jägerlatein, bei dem die Tiere jedesmal, wenn man seine Geschichte erzählt, größer und schwerer werden. Ich frage mich, ob das nicht auch für Verletzungen gilt. Vielleicht war es ursprünglich eine Tür, aber sie kann sich in eine Schlägerei verwandeln, aus der man als ruhmreicher Sieger hervorgegangen ist. Und umgekehrt kann sich ein Aschenbecher, der auf eine nicht unbedingt ruhmreiche Art und Weise von einer Frau geworfen wurde, in eine Tür verwandeln.«
Sie blieben vor dem Zimmer ihres Vaters stehen.
»Wo ist Anna?«
»Es sieht ganz so aus, als sei sie wieder verschwunden. Ich konnte sie nicht finden.«
Er klopfte an die Tür. »Am besten gehst du rein und erzählst es.«
Ihr Vater saß da, die Füße auf dem Tisch, und kaute an einem Bleistift. Er sah sie fragend an. »Ich dachte, du wolltest Anna holen?«
»Das dachte ich auch. Aber ich finde sie nicht.«
»Was heißt das?«
»Das, was ich sage. Sie ist nicht zu Hause.«
Er vermochte seine Ungeduld nicht zu verbergen. Linda machte sich bereit,
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