Vor dem Frost
sich bald legen. Wer ist eigentlich dafür geschaffen, zu einem Riesenvermögen ›nein danke‹ zu sagen? Als er zwei Jahre fort war, meldeten seine Eltern ihn als vermißt. Als Grund dafür nennen sie hier, am 12. Januar 1984, als sie die Vermißtenmeldung machen, daß er aufgehört hat, Briefe zu schreiben, daß sie seit vier Monaten kein Lebenszeichen mehr von ihm haben und daß er seine Bankkonten geleert hat. Das ist die letzte Spur von Torgeir Langaas. Bis jetzt. Es ist noch ein Kommentar von einem Polizeiinspektor Hovard Midtstuen beigefügt, der darüber informiert, daß Torgeir Langaas' Mutter Maigrim vor einem Jahr gestorben ist, sein Vater aber noch lebt. Er ist jedoch, und jetzt zitiere ich wieder wörtlich, ›körperlich und seelisch nach einem Herzinfarkt im Mai dieses Jahres stark geschwächt‹.«
Martinsson ließ die Papiere auf den Tisch fallen. »Es steht noch mehr da, aber dies ist das Wichtigste.«
Kurt Wallander hob die Hand. »Steht da, wo er sich befand, als der letzte Brief abgesandt wurde? Wann wurden die Bankkonten geleert?«
Martinsson blätterte die Papiere erneut durch, mit negativem Resultat.
Kurt Wallander griff zum Telefon. »Was hat dieser Midtstuen für eine Telefonnummer?«
Er wählte die Nummer, während Martinsson die Ziffern laut las. Alle im Raum warteten. Nach ein paar Minuten wurde das Gespräch über die norwegische Vermittlung an Hovard Midtstuen weitergeleitet. Kurt Wallander stellte seine beiden Fragen, nannte seine Telefonnummer und legte auf. »Es sollte nur ein paar Minuten dauern«, sagte er. »Wir warten.«
Neunzehn Minuten später meldete sich Hovard Midtstuen wieder. In der Wartezeit war kein Wort gefallen. Als Wallanders Handy zwischendurch klingelte, sah er nur nach, welche Nummer es war, und ignorierte den Anruf. Linda hatte das bestimmte Gefühl, daß es Nyberg war. Warum, wußte sie nicht.
Als der Anruf aus Norwegen kam, schoß Wallanders Hand zum Hörer. Mit der anderen kritzelte er ein paar Notizen auf einen Block. Er dankte seinem norwegischen Kollegen und knallte wie im Triumph den Hörer auf die Gabel. »Jetzt«, sagte er, »fangen die Dinge an zusammenzuhängen.«
Er las von seinem Block: Der letzte Brief von Torgeir Langaas war in Cleveland, Ohio, abgestempelt. Von dort aus waren auch die Bankkonten geleert und aufgelöst worden.
Er ließ den Block auf den Tisch fallen. Einige der Anwesenden begriffen noch immer nicht. Was hing zusammen? Aber Linda verstand.
»Die Frau, die tot in der Kirche von Frennestad lag, kam aus Tulsa«, sagte er. »Aber geboren war sie in Cleveland, Ohio.«
Sie saßen schweigend um den Tisch.
»Ich weiß immer noch nicht, was eigentlich los ist«, sagte Wallander. »Aber eins weiß ich sicher. Und das ist, daß sich diese junge Frau, die Freundin von Linda, Zeba oder Zebra, wie sie genannt wird, in großer Gefahr befindet. Es kann auch sein, daß ihre andere Freundin, Anna Westin, sich in Gefahr befindet.«
Er machte eine Pause, bevor er fortfuhr. »Es kann auch sein, daß Anna Westin diese Gefahr
ist.
Deshalb geht es um die beiden. Und ab sofort um nichts anderes.«
Es war inzwischen drei Uhr am Nachmittag. Linda hatte Angst. Ihre ganze Aufmerksamkeit war auf Zebra und Anna gerichtet. Ein flüchtiger Gedanke durchfuhr sie: In drei Tagen würde sie ihre Arbeit als Polizistin antreten. Aber würde sie dazu in der Lage sein, wenn Zebra oder Anna etwas passierte? Auf diese Frage hatte sie keine Antwort.
An dem Nachmittag, an dem Torgeir Anna holte und sie mit verbundenen Augen und Hörschutz zu dem Versteck nach Sandhammaren brachte, gedachte Erik Westin der Forderung Gottes an Abraham.
Er hatte sich im Arbeitszimmer des Kapitäns eingerichtet, einem kleinen Zimmer neben der Küche, das einer Kajüte ähnelte. Es hatte ein großes, in Messing gefaßtes rundes Fenster. Er hatte es angelehnt und den Haken ausgeklinkt, um schnell hinauskommen zu können, falls etwas Unerwartetes eintreten sollte. Das Unerwartete hatte stets mit dem Teufel zu tun. Der Teufel war ebenso wirklich wie Gott; es hatte ihn mehr als fünfzehn Jahre des Grübelns gekostet, zu verstehen, daß Gott nicht denkbar war ohne seinen Gegensatz.
Der Teufel ist Gottes Schatten,
hatte er gedacht, als er am Ende die Wahrheit erkannte. In seinen Träumen hatte er viele Male vergeblich versucht, den Teufel zu provozieren, damit er sich zeigte. Allmählich hatte er verstanden, daß das Aussehen des Teufels ständig wechselte. Er war der durchtriebene
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