Vor dem Frost
Maskenbildner, der jede Gestalt annehmen konnte. Einer der Irrtümer, den die Chronisten und die Illustratoren der Bibel begingen, war, daß sie den Teufel als Tier darstellten, mit Hörnern geschmückt und mit einem Schwanz. Der Teufel war ein Engel, der gefallen war. Er hatte sich die Flügel abgerissen, es waren ihm statt dessen Arme gewachsen, und er hatte die Gestalt des Menschen angenommen.
Erik Westin hatte in seinen Erinnerungen gesucht und erkannt, daß der Teufel sich ihm viele Male gezeigt hatte, ohne daß er verstanden hatte, wer es war, der sich im Traum an ihm vorbeischlich. Da hatte er auch verstanden, warum Gott nie mit ihm hierüber hatte sprechen wollen. Er sollte selbst erkennen, daß der Teufel der Schauspieler war, der alle Rollen beherrschte. Deshalb würde er sich nie ganz gegen das Eintreten des Unerwarteten schützen können. Jetzt begriff er, warum Jim in der letzten Zeit in Guyana so mißtrauisch gewesen war. Jim war nicht stark genug gewesen. Er hatte seine Furcht nie in die Fähigkeit umwandeln können, eine Verteidigung aufzubauen. Das angelehnte Fenster in der Kajüte des Kapitäns Stenhammar war eine Mahnung an die Gegenwärtigkeit des gefallenen Engels.
Er schlug eine Bibel auf, die er in der Bibliothek des Kapitäns gefunden hatte. Seine erste Bibel hatte Torgeir verloren. Sie hatte in der Hütte gelegen, in der plötzlich jene Frau aufgetaucht war. Erik war außer sich gewesen, als ihm klarwurde, daß die Bibel, die er Torgeir nur höchst ungern ausgeliehen hatte, von der Polizei beschlagnahmt worden war. Er hatte überlegt, ob es eine Möglichkeit gab, bei der Polizei einzudringen und sie zurückzuholen. Doch er hatte das Risiko für zu groß befunden.
Den Zorn über den Verlust der Bibel hatte er nur schwer kontrollieren können. Doch er brauchte Torgeir für die große Aufgabe, die ihn erwartete. Torgeir war der einzige in seiner Armee, der nicht zu ersetzen war. Er erklärte Torgeir, daß die Frau, die durch den Wald gekommen war, die verkleidete Macht des Bösen war.
Der Teufel ist Gottes Schatten, und manchmal reißt dieser Schatten sich los und geht seiner eigenen Wege, als Mensch verkleidet, als Mann oder Frau, als Kind oder Greis.
Torgeir hatte recht getan, als er die Frau tötete. Der Teufel starb nicht. Er hatte immer die Möglichkeit, aus einem Körper zu entweichen, bevor dieser starb.
Er legte die Bibel auf den schönen Schreibtisch aus rotem Sandelholz, oder vielleicht war es Mahagony, und las den Text von Gott, der Abraham aufforderte, seinen Sohn Isaak zu töten, und ihm später, als Abraham bereit war, es zu tun, erlaubte, ihn nicht zu opfern. Jetzt befand er sich in der gleichen Situation wie Abraham. Was sollte er mit seiner Tochter tun, wenn sich zeigte, daß sie nicht im Besitz der Kraft war, die er erwartete? Es hatte lange gedauert, bis seine inneren Stimmen ihm den Weg wiesen, den er zu gehen hatte. Er mußte bereit sein, auch das größte Opfer zu bringen, und nur Gott selbst konnte ihm Aufschub gewähren oder ihn davonkommen lassen.
Als Anna Zebras Stimme erkannte, begriff er, daß es Gott war, der von ihm verlangte, sich auf ebendieses Geschehen vorzubereiten. Er konnte alle ihre Reaktionen verfolgen, obwohl ihr Gesicht nur gezuckt hatte und dann ausdruckslos geblieben war. Zuerst Zweifel – hatte sie sich verhört, war es ein Tier, war es wirklich Zebra? Sie suchte nach einer Antwort, die sie überzeugen konnte, gleichzeitig wartete sie auf eine Wiederholung des Schreis. Erik verstand nicht, warum sie ihm keine Frage stellte. Eine einfache Frage, keineswegs unpassend oder unnötig. Man kommt in ein fremdes Haus, nachdem man mit verbundenen Augen und Gehörschutz, die es unmöglich gemacht haben, etwas von der Umgebung wahrzunehmen, dorthingebracht wurde. Man kommt auf eine Veranda, und plötzlich dringt ein Schrei durch den Fußboden. Doch Anna stellte keine Frage, und er dachte, daß es vielleicht ganz in Ordnung war, daß Zebra aufgeschrien hatte. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Es würde sich bald zeigen, ob Anna sich würdig zeigte, seine Tochter zu sein. Heute war der 7. September. Bald, sehr bald, würde geschehen, was er seit mehr als fünf Jahren vorbereitet hatte. Ich werde nicht mit ihr reden, dachte er. Ich muß ihr predigen. Genauso wie meinen Anhängern.
»Stell dir einen Altar vor«, sagte er. »Es kann dieser Tisch sein. Stell dir das Innere einer Kirche vor, es ist diese Veranda.«
»Wo sind wir?« »In einem Haus, aber auch in
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