Vor dem Frost
er mußte glauben, daß er das Richtige tat.
Er begleitete sie hinaus.
»Anna fährt jetzt«, sagte er zu Torgeir.
Sie stiegen in eins der Autos, die auf dem Hof standen. Erik selbst verband ihr die Augen und kontrollierte, daß sie nichts sehen konnte. Dann drückte er ihr den Hörschutz über die Ohren.
»Fahr einen Umweg«, sagte er leise zu Torgeir. »Laß sie über die Entfernung im unklaren.«
Es war halb sechs, als der Wagen anhielt. Torgeir nahm ihr den Hörschutz ab und sagte ihr, sie solle die Augen weiter geschlossen halten und bis fünfzig zählen, nachdem er ihr die Binde von den Augen genommen hatte.
»Gott sieht dich«, sagte er. »Es würde ihm nicht gefallen, wenn du heimlich guckst.«
Er half ihr beim Aussteigen. Anna zählte bis fünfzig und schlug die Augen auf. Zuerst wußte sie nicht, wo sie war. Dann sah sie, daß sie in der Mariagata stand, vor Lindas Haustür.
Am Nachmittag und Abend des 7. September erlebte Linda wieder einmal, wie ihr Vater versuchte, alle losen Enden zu einem Ganzen zu sammeln und damit einen Plan aufzustellen, wie sie weiterkommen und in der festgefahrenen Situation vielleicht einen Durchbruch bewirken konnten. In diesen Stunden war sie überzeugt davon, daß das Lob, das ihrem Vater von Kollegen, manchmal auch in den Medien, zuteil wurde – wenn sie nicht wegen seiner abweisenden Haltung bei Pressekonferenzen hart mit ihm ins Gericht gingen –, nicht übertrieben war. Sie sah ein, daß ihr Vater nicht allein über Wissen und Erfahrung verfügte, sondern auch über einen starken Willen und die Fähigkeit, seine Kollegen zu inspirieren. Sie erinnerte sich an ein Erlebnis aus ihrer Zeit an der Polizeihochschule. Der Vater eines Jahrgangskameraden war Trainer einer der führenden Mannschaften in der zweiten Eishockeyliga. Sie war mit ihm zu einem Spiel gegangen, und sie durften sogar vor dem Beginn, in der Pause und nach dem Spiel in die Kabine. Der Trainer hatte genau die Fähigkeit gehabt, die sie auch bei ihrem Vater entdeckte, nämlich die Leute mitzureißen. Nach den beiden ersten Dritteln lag die Mannschaft mit vier Toren zurück. Doch der Trainer peitschte sie hoch: nicht aufgeben, sich nicht unterkriegen lassen, und im letzten Drittel gingen sie aufs Eis und hätten das Spiel beinah noch für sich entschieden.
Wird mein Vater dieses Spiel noch für sich entscheiden? dachte sie. Wird er Zebra finden, bevor etwas passiert? Mehrmals im Laufe des Tages hatte sie eine Sitzung oder eine Pressekonferenz, bei der sie ganz hinten stand und zuhörte, verlassen müssen, um auf die nächste Toilette zu sausen. Der Magen war immer ihr schwacher Punkt gewesen. Die Angst verursachte Durchfall. Ihr Vater hingegen hatte einen Magen aus Blech. Er pflegte manchmal ein wenig selbstironisch damit zu prahlen, daß er die Magensäure einer Hyäne habe, die ätzendste, die es im Tierreich gab, ohne jemals Unwohlsein zu verspüren. Sein schwacher Punkt war der Kopf; wenn er unter starkem Druck stand, bekam er Spannungskopfschmerzen, die tagelang anhalten konnten und denen nur mit extrem starken, rezeptpflichtigen Schmerzmitteln beizukommen war.
Linda hatte Angst, und sie erkannte, daß sie damit nicht allein war. Die Ruhe und die Konzentration, die im Polizeipräsidium herrschten, hatten etwas Unwirkliches. Sie versuchte, in die Köpfe der Polizisten und Techniker, die sie umgaben, hineinzusehen, entdeckte aber nichts anderes als Konzentration und Zielbewußtsein. Sie lernte etwas, was ihr an der Polizeihochschule niemand beigebracht hatte: Es gab Situationen, in denen es die wichtigste Aufgabe eines Polizisten war, seine eigene Angst unter Kontrolle zu halten. Wenn man der Angst Raum ließ, konnten sich Konzentration und Zielbewußtsein in Chaos verwandeln.
Um kurz nach vier sah Linda ihren Vater wie ein gereiztes wildes Tier im Korridor auf und ab gehen, gerade bevor eine Pressekonferenz anfangen sollte. Mehrmals schickte er Martinsson hinein, um nachzusehen, wie viele Journalisten gekommen, wie viele Fernsehkameras aufgebaut worden waren. Ein paarmal bat er Martinsson zu kontrollieren, ob gewisse Journalisten, die er namentlich nannte, anwesend wären. Seinem Tonfall konnte Linda entnehmen, daß er inständig hoffte, sie hätten sich nicht eingefunden. Sie betrachtete ihn, wie er ruhelos im Flur auf und ab ging. Er war in einem Käfig, er wartete in einem Reitergang und sollte gleich in die Arena geschickt werden. Als Lisa Holgersson eintraf und sagte, daß es Zeit sei,
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