Vor dem Frost
finsteren Jahren mit den schwierigen und zeitraubenden Vorbereitungen hatte die Zeit sich dahingeschleppt. Jetzt ging alles plötzlich zu schnell.
Von jetzt an durfte nichts schiefgehen. »Es ist Zeit, den Countdown zu beginnen«, sagte er.
Er warf einen Blick zum Himmel. Immer, wenn er von diesem Augenblick geträumt hatte, war es so, als würde das Wetter die Dramatik des Geschehens unterstreichen. Aber der Himmel über Sandhammaren war an diesem Tag, dem 7. September 2000, wolkenlos, und es war fast windstill.
»Wieviel Grad haben wir?« fragte er.
Torgeir sah auf seine Uhr, die außer Schrittzähler und Kompaß auch ein Thermometer hatte. »Acht Grad.«
Sie traten in den Schuppen, in dessen Wänden noch der alte Geruch von Teer hing. Die Wartenden saßen auf niedrigen Holzbänken, die in einem Halbkreis aufgestellt waren. Er hatte vorgehabt, auch an diesem Tag die Zeremonie mit den weißen Masken durchzuführen. Doch als er hereinkam, entschloß er sich zu warten. Noch wußte er nicht, ob Zebra oder die Tochter des Polizeibeamten sterben würde. Dann würden sie die Masken benutzen. Jetzt war die Zeit so knapp, daß er sie so effektiv wie möglich nutzen mußte. Gott würde nicht akzeptieren, daß jemand zu spät zu seinem Auftrag kam. Die bemessene Zeit nicht zu verwalten war gleichbedeutend damit, zu leugnen, daß die Zeit von Gott gegeben war und nicht angehalten, verlängert oder verkürzt werden konnte. Diejenigen, die weit zu fahren hatten, mußten sich bald auf den Weg machen. Sie hatten genau ausgerechnet und kalkuliert, wie viele Stunden nötig waren. Sie waren den sorgfältig ausgearbeiteten Manualen mit ihren Checklisten gefolgt; sie hatten alles getan, alles vorbereitet und konnten nicht mehr tun. Aber dort draußen drohte immer Gefahr, lauerten die dunklen Kräfte, die alles daransetzen würden, sie an der erfolgreichen Durchführung ihres Auftrags zu hindern. Sie befolgten das Ritual der Zeremonie, die er ›die Bestimmung‹ getauft hatte. Sie sprachen ihre Gebete, meditierten schweigend die heiligen sieben Minuten und sammelten sich danach Hand in Hand im Kreis. Dann hielt er eine Predigt, die eine Wiederholung dessen war, was er eine Stunde zuvor zu seiner Tochter gesagt hatte. Nur das Ende war anders.
Was jetzt zu Ende geht, ist die heilige Vorkriegszeit. Wir machen dort weiter, wo man vor fast zweitausend Jahren aufgehört hat. Wir setzen dort wieder an, wo die Kirche Kirche wurde, ein Raum mit Wänden statt eines Glaubens, der den Menschen Freiheit gab. Die Zeit ist gekommen, daß wir damit aufhören, in alle Himmelsrichtungen auszuspähen nach den Anzeichen dafür, daß der Jüngste Tag nahe ist. Wir spähen jetzt nach innen und lauschen der Stimme Gottes, die uns auserwählt hat, seinen Auftrag auszuführen. Wir sagen, daß wir bereit sind, wir rufen es hinaus, daß wir jetzt bereit sind, den Fluß zwischen der alten und der neuen Zeit zu überqueren. All diese Falschheit, all dieser Verrat an dem, was Gottes Absicht mit unserem Leben war, wird jetzt ausgerottet, vernichtet, zu Asche werden, die leblos zu Boden fällt. Was wir um uns her erblicken, ist der bevorstehende Zusammenbruch. Wir sind von Gott dazu auserwählt, den Weg zu bereiten für die Zukunft. Wir fürchten nichts, wir sind bereit zu dem größten aller Opfer. Wir zögern nicht, mit Gewalt zu bekräftigen, daß wir diejenigen sind, die von Gott ausgesandt sind, und nicht von falschen Stellvertretern. Wir werden uns bald trennen. Einige von uns werden nicht zurückkehren. Wir werden uns erst wieder begegnen, wenn wir in jene andere Welt eingehen, in die Ewigkeit, ins Paradies. Das Wichtige in dieser Stunde ist, daß keiner Furcht spürt, daß wir alle wissen, was gefordert ist, und daß wir einander die ganze Zeit Mut machen.
Die Zeremonie war vorüber. Erik hatte das Gefühl, als sei der Kirchenraum jetzt in eine Militärbasis verwandelt worden.
Torgeir trug einen Tisch herbei, auf den er einen Stapel Umschläge legte. Es waren die letzten Anweisungen, die letzten Verhaltensmaßregeln. Die drei Gruppen mit der längsten Fahrstrecke sollten in gut einer Stunde aufbrechen. Sie sollten an der letzten Zeremonie, an dem letzten Opfer nicht teilnehmen. Eine andere Gruppe, die ein Boot benutzen sollte, mußte sich schon jetzt auf den Weg machen. Erik gab ihnen die Umschläge, strich mit den Fingern über ihre Stirnen und bohrte seinen Blick so tief in sie, wie er konnte. Sie verließen den Schuppen ohne ein Wort. Draußen
Weitere Kostenlose Bücher