Vor dem Frost
Abtreibung hält? Ich hatte tatsächlich die Möglichkeit, ihn danach direkt zu fragen.«
»Und die Antwort?«
»Gar keine. Er weigerte sich, mit mir zu reden. Aber in einigen seiner Predigten hat er die Abtreibung als ein schändliches Verbrechen bezeichnet, das harte Strafen verlangt.«
Sie faßte kurz zusammen. Pastor Ulrik Larsen mußte irgendwie in die Sache verwickelt sein. Aber wo, in welcher Form? Es war zu früh, darauf zu antworten.
Sie setzte sich.
Da öffnete Nyberg die Tür. »Der Theologe ist jetzt da.« Linda blickte in die Runde und sah, daß nur ihr Vater wußte, wovon Nyberg redete.
»Bring ihn rein«, sagte er.
Nyberg verschwand.
Kurt Wallander erklärte, wen sie erwarteten. »Nyberg und ich haben versucht, diese Bibel zu verstehen, die in der Waldhütte, in der Birgitta Medberg getötet wurde, zurückgelassen oder vergessen worden ist. Jemand hatte sich hingesetzt und Änderungen des Bibeltexts vorgenommen, vor allem in der Offenbarung des Johannes, im Römerbrief und an verschiedenen Stellen im Alten Testament. Aber was sind das für Änderungen? Hat die Sache Methode? Wir haben mit dem Reichskriminalamt gesprochen, aber die konnten uns keinen Experten anbieten. Deshalb haben wir uns an das Theologische Institut der Universität in Lund gewandt, und heute kommt ein Dozent Hanke, um uns zu helfen.«
Dozent Hanke erwies sich zu aller Erstaunen als Dozentin, eine junge Frau mit langem blondem Haar in schwarzen Lederhosen und einem tief ausgeschnittenen Pulli. Linda sah, wie es ihrem Vater den Atem verschlug. Die Dozentin ging um den Tisch, gab allen die Hand und setzte sich dann auf einen Stuhl, der neben Lisa Holgersson an den Tisch geschoben wurde.
»Ich heiße Sofia Hanke«, sagte sie. »Ich bin Dozentin und habe mit einer Abhandlung über den christlichen Paradigmenwechsel in Schweden nach dem Zweiten Weltkrieg promoviert.«
Sie öffnete ihre Aktentasche und nahm die Bibel heraus, die in der Hütte gefunden worden war.
»Es war faszinierend«, fuhr sie fort. »Ich habe mit einem starken Vergrößerungsglas über diesem Buch gesessen. Es ist mir gelungen, das zwischen den Zeilen Geschriebene zu entziffern. Als erstes möchte ich sagen, daß
ein
Mensch dies alles geschrieben hat. Nicht weil es die gleiche Handschrift ist, wenn man bei so kleinen Buchstaben überhaupt von Handschrift sprechen kann, sondern eher wegen des Inhalts. Natürlich kann ich nicht sagen, wer es geschrieben hat, und warum. Aber es findet sich eine Systematik, oder eher eine Logik, in dem, was hier steht.«
Sie schlug einen Notizblock auf und fuhr fort: »Ich wähle ein Beispiel, um zu erklären, was ich meine, worum es sich hier handelt, es ist das siebte Kapitel des Römerbriefs.« Sie hielt inne und warf einen Blick in die Runde. »Wie viele von Ihnen kennen die Bibel? Es gehört vielleicht nicht zur allgemeinen Ausbildung der Polizei?«
Sie erntete nichts als Kopfschütteln, außer bei Nyberg, der zur Verblüffung aller erklärte: »Ich lese jeden Abend ein Stück in der Bibel. Es ist die beste Methode, schnell einzuschlafen.«
Eine gewisse Heiterkeit breitete sich im Raum aus. Nicht zuletzt Sofia Hanke wußte seinen Kommentar zu würdigen.
»Das kann ich gut verstehen«, sagte sie. »Ich frage aus reiner Neugier. Im siebten Kapitel des Römerbriefs, der davon handelt, wie der Mensch der Sünde anheimgefallen ist, steht: ›Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.‹ Zwischen den Zeilen hat die Person, die die Änderungen vorgenommen hat, das Gute und das Böse vertauscht. In dieser Version heißt es: ›Denn das Böse, das ich will, das tue ich; aber das Gute, das ich nicht will, das tue ich nicht.‹ Anscheinend wird hier etwas auf den Kopf gestellt. Eine der grundlegenden Thesen des christlichen Glaubens ist die, daß der Mensch das Gute tun will, aber immer wieder Grund findet, lieber das Böse zu tun. Die veränderte Version besagt nun, daß der Mensch das Gute nicht einmal will. Das trifft für die meisten Änderungen in den Bibeltexten zu. Die Person, die die Texte zwischen den Zeilen geschrieben hat, versucht, neue Bedeutungen zu finden und alte umzustoßen. Es ist natürlich einfach, sich einen Geistesgestörten vorzustellen. Es gibt Berichte, wahrscheinlich entsprechen sie der Wahrheit, über Menschen, die über einen langen Zeitraum in Nervenheilanstalten saßen und dort ihre Zeit damit verbrachten, die Bibel umzuschreiben. Aber ich
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