Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
Vom Netzwerk:
wartete Torgeir mit den Kisten und der ganzen Ausrüstung, die sie mitführen sollten. Exakt um Viertel vor fünf am Nachmittag des 7. September brachen die vier ersten Gruppen auf. Drei sollten in gerader nördlicher Richtung fahren, die vierte der Straße von Sandhammaren nach Osten folgen.
    Als die Wagen verschwunden waren und die Zurückgebliebenen sich in ihre Verstecke begeben hatten, wartete Erik allein im Schuppen. Reglos saß er in der Dunkelheit und hielt das Halsband in der Hand, die vergoldete Sandale, die für ihn ebenso wichtig war wie das Kreuz. Bereute er etwas? Das hieße Gott verleugnen. Er war nur ein Instrument, aber mit einem freien Willen, um zu verstehen, daß er ein Auserwählter war, und dies anzunehmen und sich dem hinzugeben. Er dachte an das, was ihn von Jim unterschied. In den ersten Jahren nach der Katastrophe im Dschungel von Guyana hatte er nicht vermocht, alle widerstreitenden Gefühle gegenüber Jim und sich selbst zu durchdringen. Es war eine Zeit gewesen, in der alles in ihm noch rumorte und es ihm unmöglich machte zu erklären, was eigentlich geschehen war. Es war ihm nicht gelungen, sein Verhältnis zu Jim zu verstehen. Erst mit Sue-Marys Hilfe und Geduld hatte er am Ende eingesehen, daß der Unterschied zwischen ihm selbst und Jim sehr einfach, doch gleichzeitig aufwühlend war. Die Wahrheit war, daß Pastor Jim Jones ein Betrüger war, eine der Gestalten des Teufels, während er selbst ein Mann war, der die Wahrheit suchte und der von Gott dazu auserwählt worden war, in den notwendigen Krieg gegen eine Welt zu ziehen, die Gott in tote Kirchenbauten, tote Zeremonien verwiesen hatte, in einen Glauben, der die Menschen nicht mehr mit Respekt und mit Freude angesichts des Lebens zu füllen vermochte.
    Er schloß die Augen und atmete den Teergeruch ein. Als Kind hatte er einen Sommer auf Öland verbracht, bei einem Verwandten, der Fischer war. Die Erinnerung an jenen Sommer, einen der glücklichsten in den Jahren seines Heranwachsens, war mit dem Duft von Teer umgeben. Er konnte sich noch erinnern, wie er nachts hinausgeschlichen und durch die helle Sommernacht zu dem Schuppen gelaufen war, der stark nach den Fischereiutensilien gerochen hatte, und wie er dort gesessen hatte, nur um den Teerduft in seine Lungen zu ziehen. Er schlug die Augen auf. Es gab kein Zurück mehr, und er wünschte auch keins. Die Zeit war reif. Er verließ den Schuppen und nahm einen Umweg zur Vorderseite des Hauses. Im Schutz eines Baums sah er zur Veranda hinauf. Anna saß noch auf demselben Stuhl, auf dem sie vorher gesessen hatte. Er versuchte, an ihrer Körperhaltung abzulesen, wie sie sich entschieden hatte. Doch die Entfernung war zu groß.
    Es knackte hinter ihm. Er fuhr herum. Es war Torgeir. Er wurde rasend. »Warum schleichst du?«
    »Das wollte ich nicht.«
    Erik schlug ihm hart ins Gesicht, gleich unter ein Auge. Torgeir nahm den Schlag entgegen und beugte den Kopf. Erik strich ihm hastig übers Haar und ging ins Haus. Er bewegte sich lautlos durchs Zimmer, bis er unmittelbar hinter Anna stand. Sie bemerkte seine Anwesenheit erst, als er sich zu ihr niederbeugte und sie seinen Atem im Nacken spürte. Er setzte sich ihr gegenüber und zog seinen Stuhl so dicht heran, daß seine Knie an ihre rührten. »Bist du zu einem Entschluß gekommen?«
    »Ich tue, was du willst.«
    Er hatte geahnt, daß sie so entscheiden würde. Dennoch fühlte er Erleichterung.
    Er stand auf, holte eine kleine Schultertasche, die an der Wand stand, und nahm ein Messer heraus. Die Klinge war schmal und sehr scharf. Er legte es vorsichtig in ihren Schoß, als sei es ein Katzenjunges. »In dem Augenblick, in dem dir klar wird, daß sie Zusammenhänge kennt, von denen sie nichts wissen darf, sollst du sie damit stechen, nicht einmal, sondern drei- oder viermal. Stich sie in die Brust und bewege das Messer nach oben, wenn du es herausziehst. Dann rufst du Torgeir an und hältst dich abseits, bis wir dich holen. Du hast sechs Stunden Zeit, mehr nicht. Du weißt, daß ich dir vertraue. Du weißt, daß ich dich liebe. Wer liebt dich mehr als ich?«
    Sie wollte etwas sagen, hielt es aber zurück. Er wußte, daß sie Henrietta hatte sagen wollen.
    »Gott«, sagte sie.
    »Ich vertraue dir«, sagte er. »Gottes Liebe und meine Liebe sind dasselbe. Wir leben in einer Zeit, in der eine neue Welt geboren wird. Verstehst du, was ich dir sage?«
    »Ich verstehe.«
    Er sah ihr tief in die Augen. Noch war er sich nicht ganz sicher. Aber

Weitere Kostenlose Bücher