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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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eine unendliche Geduld zu haben, obwohl er eine Uhr in sich trug, die laut und schnell tickte. So hatte er es einmal ausgedrückt, als er in Stockholm war und Linda und ein paar Kameraden ihres Jahrgangs traf und von seiner Arbeit berichtete. Unter starkem Druck, besonders wenn er wußte, daß ein Mensch in großer Gefahr schwebte, hatte er das Gefühl, daß auf der rechten Seite in seinem Brustkorb, etwa auf Höhe des Herzens, eine Uhr tickte. Er zeigte also große Geduld und wurde nur ungeduldig, wenn jemand von der Spur abwich: Wo war Zebra? Die Sitzung ging ohne Unterbrechung weiter, doch dann und wann führte jemand ein Telefongespräch oder nahm eins entgegen oder jemand ging und holte Papiere oder Bilder, die unmittelbar in die Arbeit einbezogen wurden.
    »Das ist wie Rafting«, sagte Stefan Lindman gegen acht, als vorübergehend nur e" und Linda und ihr Vater im Raum waren.
    »Wir müssen durch diese Stromschnellen hindurch, ohne zu kentern. Wenn unterwegs jemand über Bord geht, müssen wir ihn wieder reinziehen.«
    Um Viertel nach acht schloß Lisa Holgersson nach einer Pause die Tür. Jetzt durften sie nicht gestört werden. Linda sah ihren Vater die Jacke ausziehen, die Ärmel seines dunkelblauen Hemds aufkrempeln und sich an den Blätterblock stellen, wo er eine leere Seite aufschlug. Er schrieb Zebras Namen in die Mitte und zog einen Kreis darum.
    »Vergessen wir vorübergehend Birgitta Medberg«, sagte er. »Ich weiß, daß das fatale Folgen haben kann. Aber es gibt im Moment keine logische Verbindung zwischen ihr und Harriet Bolson. Es kann sich um denselben oder dieselben Täter handeln, das wissen wir nicht. Aber was ich sagen will, ist, daß die Motive unterschiedlich sein müssen. Wenn wir Birgitta Medberg zwischenzeitlich beiseite lassen, sehen wir, daß es bedeutend leichter ist, eine Gemeinsamkeit zwischen Zebra und Harriet Bolson zu finden. Die Abtreibungen. Angenommen, wir haben es mit einer Anzahl von Menschen zu tun – wie viele, wissen wir nicht –, die von einem religiösen Ausgangspunkt aus Urteile über Frauen fällen, die abgetrieben haben. Ich sage
angenommen,
weil wir es nicht wissen. Wir wissen nur, daß Menschen sterben, Tiere sterben und Kirchen brennen. All das vermittelt uns ein Bild systematischer und guter Planung. Harriet Bolson wurde zur Kirche von Frennestad gebracht, um getötet und anschließend verbrannt zu werden. Der Brand in der Kirche von Hurup war ein Ablenkungsmanöver, um Verwirrung zu stiften, was auch gelang. Es dauerte lange, bis ich selbst begriff, daß zwei Kirchen brannten. Wer auch immer dahintersteckt, ist ein guter Planer.«
    Er sah die anderen an und setzte sich. »Angenommen, das Ganze ist eine Zeremonie«, fuhr er fort. »Das Feuer ist ein ständig wiederkehrendes Symbol. Die brennenden Tiere waren vielleicht eine Art Opfer. Harriet Bolson wurde vor dem Altar auf eine Art und Weise ermordet, die an einen Ritualmord denken läßt. Wir finden eine Kette mit einem Anhänger in Form einer Sandale um ihren Hals.«
    Stefan Lindman hob die Hand und unterbrach ihn. »Ich grüble über diesen Zettel mit ihrem Namen nach. Ob er für uns gedacht war; warum?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Kann es nicht trotz allem sein, daß es ein Verrückter ist, der uns herausfordert, der will, daß wir ihn jagen?«
    »Das kann sein. Aber im Moment ist das eigentlich unwichtig. Ich glaube, daß diese Menschen vorhaben, mit Zebra das gleiche zu machen wie mit Harriet Bolson.«
    Es wurde still im Raum.
    »An diesem Punkt stehen wir«, sagte er schließlich. »Wir haben keinen Täter, kein ausgemachtes Motiv, keine Richtung, in die wir gehen können. So wie ich es sehe, stecken wir fest.«
    Keiner protestierte.
    »Wir müssen weiterarbeiten«, sagte er. »Früher oder später finden wir eine Richtung. Wir müssen einfach.«
    Die Sitzung wurde beendet. Die Leute zerstreuten sich in verschiedene Richtungen. Linda hatte das Gefühl, im Weg zu sein, dachte aber nicht daran, das Polizeipräsidium zu verlassen. In drei Tagen, am Montag, dem 10. konnte sie´endlich ihre Uniform abholen und ernstlich anfange zu arbeiten. Aber im Moment war Zebra wichtiger. Linda ging auf die Toilette. Als sie wieder herauskam, klingelte ihr Handy.
    Es war Anna. »Wo bist du?«
    »Im Polizeipräsidium.«
    »Ist Zebra schon zurückgekommen? Ich habe bei ihr angerufen, aber sie meldet sich nicht.«
    Linda wurde wachsam. »Sie ist immer noch weg.«
    »Ich mache mir solche Sorgen.«
    »Das tue ich

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