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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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denn?«
    »Mit meinem eigenen Leben.«
    Ihr Vater murmelte etwas Unverständliches.
    »Ich habe heute Martinsson getroffen.«
    »Ich weiß.«
    »Was weißt du?«
    »Er hat es erwähnt. Daß ihr euch getroffen habt. Mehr nicht. Du brauchst dir nicht über alles und jedes Gedanken zu machen.«
    Das Gespräch endete. Linda wartete weiter. Um acht rief sie Zebra an und fragte, ob sie wüßte, wo Anna sein könnte. Zebra hatte seit einigen Tagen nichts von Anna gehört. Schließlich, als es neun Uhr geworden war und Linda etwas gegessen hatte, was sie in der Speisekammer und im Kühlschrank gefunden hatte, rief sie Henriette an. Sie mußte es lange klingeln lassen, bevor Henrietta sich meldete. Linda ging behutsam vor. Sie wollte die zerbrechliche Frau nicht verängstigen. War Anna nach Lund gefahren? War sie in Kopenhagen oder Malmö? Linda stellte die harmlosesten Fragen, die ihr einfielen.
    »Ich habe seit letzten Donnerstag nicht mit ihr gesprochen.«
    Vier Tage, dachte Linda. Dann hat Anna auch nichts von dem Mann erzählt, der vor dem Hotelfenster in Malmö stand. Sie hat diese wichtige Angelegenheit nicht mit ihrer Mutter geteilt, obwohl sie sich so nahe stehen.
    »Warum willst du denn wissen, wo Anna ist?«
    »Ich habe sie angerufen, und sie meldet sich nicht.«
    Linda hörte eine wachsende Besorgnis aus Henriettas Stimme.
    »Aber du rufst doch nicht jedesmal an, wenn Anna sich nicht meldet?«
    Linda war auf die Frage vorbereitet. Eine kleine Lüge, eine freundliche Lüge. »Ich hatte solche Lust zu kochen und sie zum Essen einzuladen. Sonst nichts.«
    Linda gab dem Gespräch eine andere Richtung. »Weißt du, daß ich hier in Ystad bei der Polizei anfange?«
    »Anna hat es erzählt. Aber wir verstehen beide nicht, warum du Polizistin wirst.«
    »Wenn ich Möbelpolsterin geworden wäre, stände ich jeden Tag mit Zwecken im Mund da. Bei der Polizei ist es abwechslungsreicher.«
    Irgendwo im Hintergrund läutete eine Glocke. Linda beeilte sich, das Gespräch zu beenden. Anna hat ihrer Mutter nichts von dem Mann erzählt, den sie gesehen zu haben glaubt. Sie verabredet sich heute mit mir und ist nicht da. Ohne eine Nachricht für mich zu hinterlassen.
    Linda versuchte erneut sich zu sagen, daß alles Einbildung sei. Was konnte schon passiert sein? Anna ging keine Risiken ein. Im Gegensatz zu Zebra und Linda selbst war Anna übervorsichtig. Kein Typ für die Achterbahn. Sie mißtraute fremden Menschen, stieg nie in ein Taxi, ohne vorher dem Fahrer in die Augen zu sehen. Linda ging vom Einfachsten aus: Anna war aufgewühlt. War sie nach Malmö zurückgefahren, um den Mann zu suchen, der vielleicht ihr Vater war? Anna hat nie eine Verabredung verpaßt, dachte Linda. Aber sie hat auch noch nie geglaubt, ihren Vater auf der Straße gesehen zu haben.
    Bis Mitternacht blieb Linda in der Wohnung.
    Da war sie überzeugt. Es gab keine natürliche Erklärung dafür, daß Anna nicht zu Hause war. Es war etwas passiert. Aber was?
    Als Linda kurz nach Mitternacht nach Hause kam, war ihr Vater eingeschlafen. Er erwachte davon, daß die Wohnungstür ins Schloß fiel.
    Linda betrachtete mißbilligend seinen übergewichtigen Körper.
    »Du schwillst«, sagte sie. »Eines Tages platzt du noch. Aber nicht wie ein Troll, auf den ein Sonnenstrahl fällt, sondern wie ein Ballon, der zu stark aufgeblasen wird.«
    Er zog demonstrativ den Gürtel seines Morgenrocks enger.
    »Ich tue, was ich kann.«
    »Das tust du nicht.«
    Er setzte sich schwerfällig aufs Sofa.
    »Ich habe etwas Schönes geträumt«, sagte er. »Im Moment will ich nicht an mein Gewicht denken. Die Tür, die du geöffnet hast, war eigentlich in meinem Traum. Erinnerst du dich an Baiba?«
    »Die Lettin? Habt ihr immer noch Kontakt?«
    »Einmal im Jahr. Kaum mehr. Sie hat einen Mann gefunden, einen deutschen Ingenieur, der in Riga an der Verbesserung der kommunalen Wasserversorgung arbeitet. Sie hört sich sehr verliebt an, wenn sie von ihm spricht, dem guten Hermann aus Lübeck. Ich wundere mich darüber, daß ich nicht eifersüchtig bin.«
    »Hast du von ihr geträumt?«
    Er lächelte.
    »Wir hatten ein Kind«, sagte er. »Einen kleinen Jungen, der ganz still für sich allein auf einem großen Sandplatz spielte. In der Nähe konnte man ein Blasorchester hören. Baiba und ich standen da und sahen ihm zu, und im Traum dachte ich, daß es kein Traum wäre, sondern vollkommen wirklich. Und ich spürte eine große Freude.«
    »Und das du, der du dich immer über Alpträume

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