Vor dem Frost
nicht.«
»Sie rächte sich an Männern, die Frauen mißhandelt und gequält hatten.«
»Ja, vielleicht erinnere ich mich. Vage.«
»Wir haben sie schließlich gefaßt. Alle glaubten, sie wäre wahnsinnig. Oder ein Monster. Ich selbst fand, daß sie einer der klügsten Menschen war, die mir begegnet sind.«
»Vielleicht ist es wie mit Ärzten und ihren Patienten.«
»Was meinst du damit?«
»Daß Polizeibeamte sich in Verbrecherinnen verlieben können, die sie gefaßt haben.«
Er knurrte einen nicht unfreundlichen Protest. »Das sind Dummheiten. Ich habe mit ihr geredet, sie verhört. Sie hatte einen Brief an mich geschrieben, bevor sie Selbstmord beging. Sie erzählte mir, daß die Gerechtigkeit wie ein Netz mit allzu weiten Maschen ist. Wir kommen an viele der Täter, für die wir uns interessieren sollten, nicht heran. Oder ziehen es vor, nicht an sie heranzukommen.«
»Und wer entscheidet das?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Wir alle. Die Gesetze, nach denen wir leben, kommen ja einer allgemeinen Meinung zufolge aus der Mitte des Volkes, und wir alle haben daran unseren Anteil. Aber Yvonne Ander hat mir etwas anderes gezeigt. Deshalb vergesse ich sie nicht.«
»Wie lange ist das her?«
»Sechs Jahre.«
Das Telefon klingelte.
Er fuhr zusammen. Sie sahen sich an. Es war vier Minuten vor eins. Er streckte sich nach dem Telefon, das an der Wand hing. Linda fragte sich unruhig, ob es einer ihrer Freunde wäre, der nicht wußte, daß sie noch keine eigene Wohnung hatte und bei ihrem Vater wohnte. Der Vater sagte seinen Namen und hörte zu. Linda versuchte, seine einsilbigen Fragen zu deuten. Der Anrufer war ein Polizist, soviel war ihr klar. Vielleicht war es Martinsson, vielleicht sogar Ann-Britt Höglund. In der Nähe von Rydsgärd war etwas passiert. Wallander machte ihr Zeichen, ihm einen Block und einen Bleistift zu bringen, die auf der Fensterbank lagen. Er schrieb, während er den Hörer zwischen Schulter und Hals geklemmt hielt. Sie las über seine Schulter hinweg.
Rydsgärd, Kreuzung nach Charlottenlund, Viks gärd.
Da sind wir vorbeigefahren, dachte sie, als wir das Haus auf dem Hügel besichtigt haben, das er nicht kaufen wollte. Er schrieb wieder, sie las:
Kalbsbrand. Äkerblom.
Dann eine Telefonnummer. Er beendete das Gespräch und hängte den Hörer ein. Linda setzte sich wieder. Ihm gegenüber.
»›Kalbsbrand‹. Was ist das?«
»Das frage ich mich auch.«
Er stand auf. »Ich muß hin.«
»Was ist denn passiert?«
Er stand in der Tür und zögerte. Nach einem kurzen Augenblick faßte er seinen Entschluß. »Komm mit.«
»Du warst ja von Anfang an dabei«, sagte er, als sie im Wagen saßen. »Da kannst du ebensogut jetzt mitfahren, es sieht nach einer Fortsetzung aus.«
»Wovon?«
»Die Behauptung, daß Schwäne gebrannt hätten.«
»Ist es wieder passiert?«
»Ja und nein. Nur diesmal keine Vögel. Aber offenbar hat ein Wahnsinniger einen Jungbullen aus einem Stall freigelassen, ihn mit Benzin begossen und angezündet. Der Bauer hat im Präsidium angerufen. Eine Streife ist hingefahren. Aber ich hatte veranlaßt, informiert zu werden, wenn es wieder passiert. Ein Sadist, Tierquäler. Das gefällt mir nicht.«
Linda wußte, wenn ihr Vater einen Gedanken zurückhielt. »Du sagst nicht, was du denkst.«
»Nein.«
Er schnitt das Gespräch ab. Linda fragte sich, warum er sie eigentlich mitgenommen hatte.
Sie bogen von der Hauptstraße ab, fuhren durch das nächtlich leere Rydsgärd und von da in südlicher Richtung dem Meer zu. An einer Kreuzung wartete ein Polizeiauto. Sie folgten dicht dahinter. Kurz darauf fuhren sie auf den gepflasterten Innenhof von Viks gärd.
»Wer bin ich?« fragte Linda.
»Meine Tochter«, sagte er. »Niemand stört sich daran, wenn du dabei bist. Vorausgesetzt, du gibst dich nicht als mehr aus als meine Tochter. Polizistin zum Beispiel.«
Sie stiegen aus. Der böige Wind fing sich zwischen den Hauswänden. Die beiden Streifenpolizisten begrüßten sie. Der eine hieß Wahlberg, der andere Ekman. Wahlberg war stark erkältet, und Linda, die immer fürchtete sich anzustecken, zog hastig ihre Hand zurück. Ekmans Augen blinzelten kurzsichtig. Er beugte sich zu ihr vor und lächelte. »Ich dachte, du würdest erst in ein paar Wochen anfangen.«
»Sie leistet mir Gesellschaft«, sagte Kurt Wallander. »Was ist hier passiert?«
Sie gingen durch das Tor und folgten einem unbefestigten Weg, der zur Rückseite des Hauses führte, wo ein
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