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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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erträglichen Grenzen zu halten.«
    Martinsson brachte Linda zur Anmeldung.
    »Ich will dich nicht entmutigen«, sagte er. »Es gibt nichts Schlimmeres als kleinmütige Polizisten. Wenn man in diesem Beruf eine einigermaßen taugliche Kraft sein will, darf man nie den Mut verlieren. Und man muß seine gute Laune behalten.«
    »Wie mein Vater?«
    Martinsson sah sie neugierig an. »Kurt Wallander ist ein guter Polizist«, sagte er. »Und das weißt du auch. Aber man kann ihm kaum vorwerfen, die größte Stimmungskanone hier im Haus zu sein. Was du natürlich auch schon weißt.«
    Sie blieben in der Anmeldung stehen. Ein verärgerter Mann beklagte sich bei einer der Angestellten über einen eingezogenen Führerschein.
    »Der ermordete Polizist«, sagte Martinsson. »Wie reagierst du darauf?«
    Linda erzählte von ihrem Ball, von dem Fernseher in der Küche und dem abrupten Ende des Festes.
    »Es trifft schon hart«, sagte Martinsson. »Alle sind mitgenommen und sagen sich, daß unsichtbare Waffen auf jeden von uns gerichtet sein können. Wenn Kollegen getötet werden, denken viele daran aufzuhören. Aber nur sehr wenige tun es. Sie bleiben. Ich bin einer von ihnen.«
    Linda verließ das Polizeipräsidium und ging zu Fuß, gegen den Wind, zu dem Mietshaus in Öster, in dem Zebra wohnte. Unterwegs dachte sie nach über das, was Martinsson gesagt hatte, und das, was er nicht gesagt hatte. Das hatte ihr Vater ihr beigebracht, immer auf das zu achten, was nicht ausgesprochen wurde. Oft lag darin die wichtigste Mitteilung. Aber als sie das Gespräch mit Martinsson noch einmal Revue passieren ließ, fand sie nichts dergleichen. Er gehört zum einfachen und ehrlichen Typ, dachte sie. Er weiß nichts von den unsichtbaren Botschaften der Menschen.
    Sie blieb nur kurz bei Zebra, weil der Junge Bauchschmerzen hatte und ununterbrochen schrie. Sie verabredeten sich für das kommende Wochenende. Dann würde Linda in aller Ruhe von dem Ball erzählen und davon, wie ihr Kleid bewundert worden war.
    Doch dieser Tag, der 27. August, war der Tag, an dem Anna Westin spurlos verschwand. Als Linda sich mit dem Dietrich Zutritt verschafft hatte und in Annas Wohnzimmer saß, versuchte sie sich Anna vorzustellen, ihre Stimme zu hören, wie sie von dem Mann erzählte, der vor einem Hotelfenster auf der Straße gestanden hatte und ihrem Vater glich. Es gibt Doppelgänger, dachte Linda. Es ist nicht nur eine Legende, daß jeder Mensch irgendwo auf der Welt seine Entsprechung hat, einen Menschen, der zur gleichen Zeit geboren ist und stirbt wie er. Doppelgänger sind eine Realität. Ich selbst habe einmal in der U-Bahn in Stockholm meine Mutter gesehen. Beinah wäre ich zu ihr gegangen. Sie hörte auf, meine Mutter zu sein, als sie eine finnische Zeitung aufschlug und zu lesen begann.
    Was hatte Anna eigentlich erzählt? Von einem wiederauferstandenen Vater oder seinem Doppelgänger? Sie hatte darauf bestanden, daß es wirklich ihr Vater war. Aber Anna besteht immer auf allem, dachte Linda. Sie kann Dinge behaupten, die nicht wahr sind, sondern eingebildet oder erfunden. Aber sie würde sich nie verspäten oder vergessen, daß sie Besuch bekommen soll.
    Linda ging in der Wohnung umher. Sie blieb beim Bücherregal in Annas Studierecke im Eßzimmer stehen. Sie las die Buchrücken. Hauptsächlich Romane, die eine und andere Reiseschilderung. Aber kaum Fachliteratur. Linda runzelte die Stirn. Fast keine medizinischen Fachbücher. Sie ging zu den anderen Bücherregalen in der Wohnung. Was sie noch fand, war ein Nachschlagewerk über die gewöhnlichsten Volkskrankheiten. Hier war ein Bruch, dachte sie. Müßte Linda nicht massenweise medizinische Fachliteratur für ihr Studium haben?
    Sie öffnete den Kühlschrank. Darin war das Übliche, nichts Unerwartetes. Die Zukunft war in Form einer ungeöffneten Milchpackung mit dem Haltbarkeitsdatum 2. September vertreten. Linda setzte sich wieder ins Wohnzimmer und versuchte, die Bruchstelle genauer zu betrachten. Wie konnte jemand, der Medizin studierte, ohne Fachliteratur auskommen? Hatte sie die Bücher an einem anderen Ort? Aber sie wohnte in Ystad und behauptete, den größten Teil ihrer Studien hier zu betreiben.
    Linda wartete. Es wurde sieben. Sie rief zu Hause an.
    Ihr Vater meldete sich mit vollem Mund. »Ich dachte, wir wollten heute zusammen essen?«
    Linda zögerte, bevor sie antwortete. Sie wollte etwas von Anna sagen und wollte es gleichzeitig nicht. »Ich bin beschäftigt.«
    »Womit

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