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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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beklagst.«
    Er ließ sich nicht unterbrechen. »Die Tür ging auf. Deine Tür war eine Wagentür. Es war Sommer, die Sonne war unheimlich warm. Das ganze Dasein war überbelichtet, die Gesichter von Baiba und mir und dem Jungen waren ganz weiß, schattenlos. Es war ein schöner Traum. Wir wollten gerade losfahren, als ich aufwachte.«
    »Das tut mir leid.«
    Er zuckte die Schultern. »Was bedeutet schon ein Traum.«
    Linda wollte über Anna reden. Aber ihr Vater schlurfte hinaus in die Küche und trank Wasser aus dem Wasserhahn. Linda ging ihm nach.
    Er glättete sich das Haar im Nacken und sah sie an. »Warum kommst du so spät? Es geht mich ja überhaupt nichts an. Aber ich habe das bestimmte Gefühl, daß du gerade jetzt
willst,
daß ich dich frage.«
    Linda erzählte. Er lehnte mit vor der Brust verschränkten Armen am Kühlschrank. So steht er immer da, wenn er zuhört, dachte sie. So kenne ich ihn schon aus meiner Kindheit. Ein Riese mit verschränkten Armen, der vor mir stand und auf mich hinuntersah. Ich dachte, daß ich einen Papa hatte, der ein Berg war. Papa Berg.
    Er schüttelte den Kopf, als sie verstummt war. »Nein«, sagte er. »So läuft das nicht ab.«
    »Was?«
    »Wenn ein Mensch verschwindet.«
    »Aber es sieht ihr nicht ähnlich. Ich kenne sie seit meinem siebten Lebensjahr. Sie ist nie zu spät gekommen, hat es nie vergessen, wenn wir uns verabredet hatten.«
    »Es ist meistens idiotisch, zu sagen, daß einmal immer das erste Mal ist. Aber so ist es. Stell dir vor, sie ist aufgewühlt, weil sie glaubt, ihren Vater gesehen zu haben. Vielleicht ist es genau so, wie du denkst: Sie hat sich auf die Suche nach ihm gemacht.«
    Linda nickte. Natürlich hatte er recht, das sah sie ein. Es war nicht unbedingt einleuchtend, daß ihr etwas zugestoßen sein mußte.
    Der Vater setzte sich auf die Holzbank vorm Fenster. »Man lernt irgendwann, daß die Ereignisse fast immer eine große Wahrscheinlichkeit aufweisen. Menschen schlagen einander tot, lügen, begehen Einbrüche und Raubüberfälle oder verschwinden. Wenn man sich tief genug in den Brunnen hinabläßt – und ich sehe jede Ermittlung als einen Brunnen –, findet man meist eine Erklärung. Es war wahrscheinlich, daß gerade dieser Mensch verschwand, es war ebenso wahrscheinlich, daß gerade ein anderer Mensch eine Bank überfiel. Ich sage nicht, daß nicht auch das Unerwartete eintrifft. Aber selten ist es richtig, wenn jemand sagt: ›Von ihm oder ihr hätte ich das nie geglaubt.‹ Wenn man nachdenkt und die äußere Farbschicht abkratzt, findet man andere Farben und andere Antworten.«
    Er gähnte und ließ die Hände schwer auf die Tischplatte fallen. »Jetzt gehen wir schlafen.«
    »Bleib noch ein paar Minuten sitzen.«
    Er sah sie neugierig an.
    »Du bist nicht überzeugt? Du glaubst immer noch, daß Anna etwas zugestoßen ist?«
    »Nein. Du hast sicher recht.«
    Sie saßen schweigend da. Eine Windböe ließ ein paar Zweige ans Fenster schlagen.
    »Ich träume ziemlich viel in letzter Zeit«, sagte er. »Vielleicht, weil ich so oft wach werde, wenn du nach Hause kommst. Ich träume also nicht mehr als sonst. Aber ich erinnere mich an die Träume. Gestern nacht hatte ich ein sonderbares Erlebnis. Ich ging im Traum über einen Friedhof. Plötzlich stand ich vor ein paar Grabsteinen, und ich kannte alle Namen darauf. Stefan Fredmans Name war auch dabei.«
    Linda schauderte. »An den kann ich mich erinnern. Ist es wirklich wahr, daß er einmal in unsere Wohnung eingedrungen ist?«
    »Ich glaube es. Aber ganz eindeutig konnten wir es nie klären. Er antwortete immer ausweichend, wenn wir ihn fragten.«
    »Du warst doch auf seiner Beerdigung. Was war eigentlich passiert?«
    »Er war in einer geschlossenen Anstalt. Eines Tages legte er Kriegsbemalung an, wie er es früher getan hatte, kletterte auf ein Dach und stürzte sich in die Tiefe.«
    »Wie alt ist er geworden?«
    »Achtzehn oder neunzehn.«
    Der Wind rüttelte am Fenster.
    »Und wer waren die anderen?«
    »Ich erinnere mich vor allem an eine Frau, Yvonne Ander. Ich glaube, sogar ihr Todesdatum stimmte. Obwohl es eine Reihe von Jahren her ist.«
    »Was hatte sie getan?«
    »Erinnerst du dich daran, daß Ann-Britt Höglund niedergeschossen und schwer verletzt wurde?«
    »Wie sollte ich das vergessen können! Du hast dich in Dänemark verkrochen und warst auf dem besten Wege, dich totzusaufen.«
    »Na, ganz so schlimm war es nicht.«
    »Es war schlimmer. Nein, an Yvonne Ander erinnere ich mich

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