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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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wußte.«
    »Du hast mich gebeten zu kommen, damit ich dir zuhöre und dann sage, was ich meine. Auch wenn du sicher bist, daß er es war, der vor dem Fenster stand, kann ich nicht glauben, daß du recht hast. Es ist dein Wunschdenken, du möchtest, daß er zurückkommt, sich wieder sichtbar macht. Vierundzwanzig Jahre sind eine lange Zeit.«
    »Ich weiß, daß er es war. Es war mein Vater, der da stand. Nach all diesen Jahren zeigt er sich mir wieder. Ich irre mich nicht.«
    Ihr Gespräch war zu Ende. Linda spürte, daß Anna jetzt allein sein wollte, so wie sie vorher ihre Gesellschaft gebraucht hatte.
    »Sprich mit deiner Mutter«, sagte Linda. »Entweder hast du ihn gesehen, oder du hast etwas gesehen, was du sehen wolltest.«
    »Du glaubst mir nicht?«
    »Es geht nicht darum, was ich glaube oder nicht. Nur du weißt, was du vor dem Hotelfenster gesehen hast. Du mußt verstehen, daß es mir schwerfällt zu glauben, daß es dein Vater war. Natürlich sage ich nicht, daß du lügst. Warum solltest du? Ich sage nur, daß Menschen, die vierundzwanzig Jahre fort waren, äußerst selten zurückkommen. Denk daran, überschlaf das Ganze noch einmal, und dann reden wir morgen weiter. Ich kann um fünf Uhr kommen. Paßt dir das?«
    »Ich weiß, daß ich ihn gesehen habe.«
    Linda runzelte die Stirn. In Annas Tonfall klang etwas Angespanntes und Hohles an. Vielleicht lügt sie doch, dachte Linda. Irgendwas an der Sache stimmt nicht. Aber warum sollte sie mich belügen? Sie muß doch merken, daß ich sie durchschaue.
    Linda ging durch die abendlich leere Stadt nach Hause. Vor dem Kino in der Stora Östergata standen ein paar Jugendliche, in ein Kinoplakat versunken. Sie fragte sich, ob sie die unsichtbare Uniform bemerkten, die sie trug.
    Am Tag danach verschwand Anna Westin spurlos aus ihrer Wohnung. Linda war sofort klar, daß etwas passiert war, als sie um fünf Uhr an ihrer Tür klingelte und Anna nicht aufmachte. Linda klingelte erneut und rief durch den Briefschlitz. Aber Anna war nicht da. Linda wartete eine halbe Stunde, zögerte noch eine Weile, holte aber dann ihre Dietriche aus der Jackentasche. Einer ihrer Kurskameraden hatte in den USA einen Vorrat davon gekauft und sie verschenkt, unter anderem an Linda. Heimlich hatten sie geübt, alle Türen zu öffnen, an die sie herankamen. Es gab nur wenige Standardschlösser, die Linda nicht schaffte.
    Sie öffnete auch diese Tür mit einem raschen Griff und zog sie hinter sich zu. Dann ging sie durch die leeren Räume. Alles war aufgeräumt, genau wie am Tag zuvor. Die Spüle geleert, die Handtücher frisch gebügelt. Anna war pünktlich. Sie hatten einen genauen Zeitpunkt verabredet. Anna war nicht da. Also mußte etwas passiert sein. Die Frage war nur, was. Linda setzte sich aufs Sofa, auf dem sie am Abend zuvor gesessen hatte. Anna glaubt, ihren verschwundenen Vater auf der Straße gesehen zu haben, dachte sie. Und jetzt verschwindet sie selbst. Natürlich hängt das zusammen. Fragt sich nur, wie. Eine Rückkehr, die vermutlich nur Einbildung ist. Ist ihr Verschwinden auch Einbildung? Linda blieb lange sitzen und versuchte zu überlegen, was geschehen sein könnte. Aber im Grunde saß sie nur da und wartete auf Anna, in der Hoffnung, sie habe sich verspätet oder ihre Verabredung vergessen.
    Annas rätselhaftes Verschwinden war wie der Höhepunkt eines Tages, der für Linda früh angefangen hatte. Um halb acht war sie ins Polizeipräsidium gegangen, um Martinsson zu treffen, einen von Kurt Wallanders ältesten Kollegen, der zu Lindas Mentor bestimmt worden war. Sie sollten nicht zusammenarbeiten, weil Linda wie alle Polizeianwärter bei der Ordnungspolizei anfing und mit verschiedenen Kollegen Streife fuhr. Aber Martinsson war der Kollege, an den sie sich wenden konnte. Linda kannte ihn, seit sie klein war. Da war Martinsson selbst noch wie ein großes Kind gewesen, der jüngste Mitarbeiter ihres Vaters. Von ihrem Vater hatte sie gehört, daß Martinsson häufig den Mut verloren hatte und bei der Polizei aufhören wollte. Mindestens dreimal in den letzten zehn Jahren war es ihrem Vater gelungen, Martinsson umzustimmen, wenn er spontan seine Kündigung einreichen wollte.
    Linda hatte ihren Vater gefragt, ob er in irgendeiner Form die Hand im Spiel gehabt hätte, als die Polizeiführung mit Lisa Holgersson an der Spitze Martinsson zu ihrem Mentor bestimmt hatte. Aber er stritt das entschieden ab. Aus allen Angelegenheiten, die sie betrafen, halte er sich heraus, so gut

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