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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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er könne. Linda hatte seine Versicherung mit Skepsis aufgenommen. Wenn sie vor etwas Angst hatte, dann davor, daß er sich in ihre Arbeit einmischen würde. Das war auch der Grund dafür gewesen, daß sie bis zuallerletzt im Zweifel gewesen war, ob sie nach Ystad zurückkehren oder in einem anderen Teil des Landes anfangen sollte zu arbeiten. Auf ihren Bewerbungsformularen für zukünftige Arbeitsplätze hatte sie als Alternative zu Ystad Kiruna und Lulea angegeben, also möglichst weit fort von Schonen. Aber sie war nach Ystad gekommen. Alles andere wäre ihr letztlich auch als undenkbar erschienen. Sie konnte sich gut vorstellen, später einmal an einem anderen Ort in Schweden zu wohnen. Wenn sie wirklich ihr ganzes Leben bei der Polizei bliebe, was keine Selbstverständlichkeit war. Vielleicht war es für frühere Generationen so gewesen. Aber in der Zeit an der Polizeihochschule hatten sie und ihre Kameraden oft darüber gesprochen, daß man nicht sein ganzes Leben bei der Polizei bleiben mußte. Die Berufserfahrung als Polizist qualifizierte einen für alles, vom Leibwächter bis zum Sicherheitsbeauftragten eines Unternehmens.
    Martinsson holte sie an der Anmeldung ab. Sie setzten sich in sein Zimmer. Auf dem Schreibtisch standen Fotos seiner beiden Kinder und seiner freundlich lächelnden Frau. Linda überlegte kurz, wessen Bild sie wohl auf ihren Schreibtisch stellen würde. Sie gingen einen Teil der Routinetätigkeiten durch, die sie erwarteten. Zunächst sollte sie mit zwei Kollegen, die schon lange bei der Ordnungspolizei in Ystad waren, Streife fahren.
    »Sie sind beide gut«, sagte Martinsson. »Ekman kann manchmal ein bißchen langsam und schlapp wirken. Aber wenn es wirklich drauf ankommt, hat keiner einen besseren Überblick und besseres Handlungsvermögen. Sundin ist das genaue Gegenteil. Er kann Energie auf Unwichtiges verschwenden. Er hält immer noch Leute an, die bei Rot über die Straße gehen. Aber er weiß auch, was es bedeutet, Polizist zu sein. Du bekommst es also mit zwei guten Typen zu tun, die schon lange dabei sind.«
    »Was sagen sie dazu, daß ich eine Frau bin?«
    »Wenn du deinen Job machst, ist es ihnen egal. Vor zehn Jahren wäre das anders gewesen.«
    »Und mein Vater?«
    »Was ist mit ihm?«
    »Ich bin seine Tochter.«
    Martinsson überlegte, bevor er antwortete. »Es gibt bestimmt den einen oder anderen, der hofft, daß du dich blamierst. Aber das war dir sicher schon klar, als du dich hier beworben hast.«
    Danach sprachen sie fast eine Stunde lang über die Lage im Polizeibezirk Ystad. ›Die Lage‹ war etwas, worüber Linda immer hatte reden hören, solange sie zurückdenken konnte, ja, seit ihrer Kindheit, wenn sie im Wohnzimmer unter dem Tisch saß und spielte und ihren Papa mit Gläsern klirren und mit einem Kollegen über die jedesmal gleich schwierige Lage reden hörte. Sie hatte noch nie von einer Lage reden hören, in der es keine Probleme gab. Es konnte sich um alles und jedes drehen. Neue Uniformen, die nicht gut waren, die Auswechslung von Polizeiautos oder Funksystemen, Neueinstellungen von Personal, Direktiven der Reichspolizeibehörde, Veränderungen in der Verbrechensstatistik; alles hatte mit der Lage zu tun, die ständig für Unruhe und Ärger sorgte. Polizistin zu sein, dachte Linda, bedeutet, jeden Tag zusammen mit seinen Kollegen im Kampf gegen Kriminalität und Unordnung eine Einschätzung vornehmen zu müssen, wie die Lage sich seit dem Vortag verändert hat und was vom nächsten Tag zu erwarten ist. Darüber haben wir in unserer Ausbildung nichts gelernt. Aber darüber, wie man auf Straßen und Plätzen für Ordnung sorgt, weiß ich ziemlich viel, zumindest theoretisch, aber wie man lernt, ›die Lage‹ einzuschätzen, hat uns niemand beigebracht.
    Sie gingen in den Eßraum und tranken Kaffee. Martinsson faßte seine Sicht der ›Lage‹ ganz kurz zusammen: Immer weniger Polizeibeamte leisteten Ermittlungsarbeit im Feld.
    »Ich habe mich in den letzten Jahren ein bißchen mit Geschichte beschäftigt. Es kommt mir so vor, als hätten sich Verbrechen in Schweden zu keinem Zeitpunkt so gelohnt wie heute. Wenn man etwas Entsprechendes finden will, muß man weit zurückgehen, in die Zeit, bevor Gustav Vasa das Reich einte. Damals, in der Zeit der Kleinkönige, bevor Schweden zu Schweden wurde, herrschte eine verheerende Unordnung und Gesetzlosigkeit. Heute schützen wir das Gesetz kaum noch. Was wir tun, ist, die Gesetzlosigkeit in einigermaßen

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