Vor dem Frost
daß ich im Bett bleibe und faulenze.
Sie stand auf und öffnete das Fenster. Es war ein klarer Tag, die Wärme hielt an. Die Ereignisse der Nacht zogen vorüber, der qualmende Tierkadaver und ihr Vater, der plötzlich so alt und verbraucht ausgesehen hatte. Seine Unruhe verändert ihn. Er kann fast alles vor mir verbergen, aber nicht seine Unruhe.
Sie frühstückte und zog die Sachen vom Vortag an, überlegte es sich aber anders und wechselte noch zweimal die Kleider, bevor sie zufrieden war. Dann rief sie bei Anna an. Nach dem fünften Klingeln schaltete sich der Anrufbeantworter ein. Sie rief hallo und bat Anna, ans Telefon zu gehen. Doch es war niemand da. Sie stellte sich vor den Spiegel im Flur und fragte sich, ob sie sich noch Sorgen machte, weil die selbstbewußte Anna weggegangen war, ohne ihr Bescheid zu sagen. Nein, sagte sie zu sich selbst. Ich mache mir keine Sorgen. Es gibt bestimmt eine Erklärung. Anna sucht nur diesen Mann, der auf der Straße stand und die Frechheit besaß, wie ihr Vater auszusehen.
Linda ging zum Sportboothafen hinunter und schlenderte über die Pier. Das Meer war spiegelblank. Eine Frau lag halbnackt auf dem Bug eines Boots und schnarchte. Noch dreizehn Tage, dachte Linda. Von wem ich wohl meine Rastlosigkeit habe? Kaum vom Vater, aber auch nicht von der Mutter.
Sie ging auf der Pier zurück. Auf einem Poller hatte jemand eine Zeitung liegenlassen. Sie blätterte darin bis zu den Anzeigenseiten, suchte nach gebrauchten Autos. Ein Saab für 19000. Ihr Vater hatte versprochen, ihr 10000 dazuzulegen. Einen Wagen wollte sie haben. Aber einen Saab für 19000? Wie lange würde der wohl halten?
Sie steckte die Zeitung ein und ging zu Annas Wohnung. Keine Reaktion auf ihr Klingeln. Als sie die Wohnungstür wieder mit dem Dietrich geöffnet hatte und in den Flur trat, hatte sie plötzlich das Gefühl, jemand sei in der Wohnung gewesen, nachdem sie diese gegen Mitternacht verlassen hatte. Sie blieb ganz still stehen und ließ den Blick über die Wände im Flur wandern, über die Kleider, die da hingen, und die Schuhe, die in einer Reihe dastanden. War etwas verändert? Sie sah jedoch nichts, was sie davon überzeugte, daß ihr Gefühl richtig war.
Sie ging ins Wohnzimmer und setzte sich aufs Sofa. Ein leeres Zimmer, dachte sie. Wenn ich Vater wäre, würde ich versuchen, die Abdrücke dessen zu erkennen, was hier geschehen ist, würde versuchen, mir Menschen und ein dramatisches Geschehen vorzustellen. Doch ich sehe nichts, nur die Tatsache, daß Anna nicht hier ist.
Sie stand auf und ging langsam zweimal durch die Wohnung. Jetzt war sie überzeugt, daß Anna in der Nacht nicht hier gewesen war. Und auch sonst niemand.
Linda setzte sich an den Schreibtisch in Annas Schlafzimmer. Sie zögerte. Aber die Neugier gewann die Oberhand. Linda wußte, daß Anna Tagebuch führte. Das hatte sie schon immer getan. Linda erinnerte sich an Situationen in den letzten Jahren ihrer Gymnasialzeit, als Anna sich in eine Ecke zurückgezogen hatte und Tagebuch schrieb. Über einen Jungen, der es einmal an sich gerissen hatte, war sie mit einer solchen Wut hergefallen, unter anderem hatte sie ihn in die Schulter gebissen, daß niemals wieder jemand den Versuch machte, an ihre Aufzeichnungen zu kommen.
Sie zog eine der Schreibtischschubladen auf. Sie war voller abgegriffener, vollgeschriebener Tagebücher. Linda öffnete die anderen Schubladen. Überall Tagebücher. Auf den Umschlägen standen Jahreszahlen. Bis zu Annas sechzehntem Lebensjahr waren es rote Umschläge. Dann hatte sie plötzlich aufbegehrt und die Farbe gewechselt. Von da an hatte sie nur noch in Hefte mit schwarzem Umschlag geschrieben.
Linda schloß die Schubladen und hob ein paar Papiere an, die auf dem Schreibtisch lagen. Da war das Tagebuch, an dem sie gerade schrieb. Ich sehe nur auf die letzte Seite, dachte Linda. Sie entschuldigte sich damit, daß sie trotz allem besorgt war. Sie schlug die letzte, zur Hälfte beschriebene Seite auf. Das Datum des Vortags, des Tages, an dem Linda Anna hätte treffen sollen. Linda beugte sich über den Text. Anna hatte eine kleine Handschrift, als versuchte sie, die Buchstaben zu verstecken. Linda las den Text zweimal, zunächst ohne zu verstehen, dann mit wachsender Verwunderung. Was Anna schrieb, war unbegreiflich:
Meineide, Vatikan, Meineide, Vatikan.
War das ein Kode, eine Geheimsprache für Eingeweihte?
Linda brach ihren Vorsatz, nur die letzte Tagebucheintragung zu lesen. Sie blätterte
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