Vor dem Frost
zurück. Dort war der Text ganz anders. Anna hatte geschrieben:
Saxhusens Lehrbuch der klinischen Grundlagen ist eine pädagogische Katastrophe; unmöglich zu lesen und zu verstehen. Als Lehrbuch unbrauchbar. Angehende Ärzte werden abgeschreckt und wenden sich statt dessen der Forschung zu, wo sie außerdem mehr verdienen können.
Weiter hatte sie notiert:
Am Morgen leichtes Fieber, es ist windig
– stimmt genau, dachte Linda –, und weiter hatte Anna sich gefragt, wo sie
den zweiten Autoschlüssel hingelegt
haben könnte. Linda ging zurück zur letzten Eintragung und las sie noch einmal durch. Sie versuchte, sich Anna vorzustellen, während sie schrieb. Sie hatte nichts durchgestrichen, nichts geändert, nicht gezögert. Ihre Handschrift war nicht fahrig, sie war gleichbleibend resolut.
Meineide, Vatikan, Meineide, Vatikan. Ich habe dieses Jahr neunzehn Waschtage gehabt, sehe ich. Mein Traum ist es, eine anonyme Amtsärztin in irgendeinem Vorort zu werden. Vielleicht im Norden. Aber gibt es in norrländischen Städten Vororte?
Da endete der Text. Kein Wort von dem Mann, den sie auf der Straße vor dem Hotelfenster gesehen hatte. Kein Wort, keine Andeutung, nichts. Ist das nicht etwas, was man in ein Tagebuch schreibt?
Sie blätterte zurück, um eine Bestätigung dafür zu finden. Dann und wann hatte Anna etwas über sie geschrieben.
Linda ist meine Freundin,
hieß es am 20. Juli zwischen Aufzeichnungen darüber, daß ihre Mutter sie besucht hatte und sie
über nichts gestritten
hatten und daß sie am gleichen Abend
nach Malmö fahren
wollte,
um einen russischen Film zu sehen.
Fast eine Stunde saß Linda mit wachsendem schlechtem Gewissen da und suchte nach Eintragungen über sich selbst.
Linda kann ganz schön anstrengend sein,
hieß es am 4. August. Was haben wir an dem Tag gemacht, dachte Linda, ohne daß es ihr einfiel. Der 4. August war ein Tag wie alle anderen in diesem Sommer der Ungeduld gewesen. Linda hatte nicht einmal einen Kalender. Sie organisierte ihre Zeit mit losen Zetteln und schrieb sich Telefonnummern häufig aufs Handgelenk.
Sie schlug das Tagebuch zu. Sie hatte nichts gefunden. Nur diese eigentümliche letzte Eintragung. Das sieht ihr nicht ähnlich, dachte Linda. Alles, was sie sonst schreibt, sind Aufzeichnungen eines Menschen, der ausgeglichen ist und nicht mehr Probleme hat als alle anderen. Nur am letzten Tag, als sie glaubt, ihren verschwundenen Vater nach vierundzwanzig Jahren wiedergesehen zu haben, schreibt sie etwas von Meineiden und Fatima. Das ist Irrsinn. Warum schreibt sie nichts von ihrem Vater? Warum schreibt sie etwas, was unverständlich ist?
Linda spürte, daß ihre Unruhe und Sorge zurückkehrten. Konnte Anna Grund gehabt haben für ihre Befürchtung, verrückt zu werden? Linda trat an das Fenster, an dem Anna oft stand, wenn sie sich unterhielten. Das Sonnenlicht war gleißend, Reflexe von einem Fenster auf der anderen Straßenseite zwangen sie zu blinzeln. Kann Anna von Sinnesverwirrung befallen worden sein, dachte sie. Sie glaubt, ihren Vater zu sehen. Das erschüttert sie und bringt sie so durcheinander, daß sie die Kontrolle über sich verliert und etwas tut, was sie bereut. Aber was?
Linda fuhr zusammen. Der Wagen. Annas Wagen, der kleine rote Golf. Wenn sie weggefahren wäre, müßte der Wagen fort sein. Linda hastete hinunter auf die Straße und auf den Parkplatz im Hof. Der Wagen stand da. Sie faßte die Türen an, sie waren verschlossen. Der Wagen schien frisch gewaschen zu sein. Das erstaunte sie. Annas Wagen war meistens schmutzig, dachte sie. Jedesmal wenn wir zusammen aus waren, hat sie mich in einem ungewaschenen Auto abgeholt. Jetzt glänzt es. Sogar die Felgen funkeln.
Langsam ging sie wieder hinauf, setzte sich in die Küche und suchte nach einer plausiblen Erklärung. Das einzige unbezweifelbare Faktum war, daß Anna nicht zu Hause geblieben war, als Linda wie verabredet kam, um sie zu besuchen. Es konnte sich nicht um ein Mißverständnis handeln. Anna konnte es auch nicht vergessen haben. Also hatte sie
sich dafür entschieden,
nicht zu Hause zu sein. Etwas anderes war ihr wichtiger. Aber ihr Auto war dafür nicht erforderlich. Linda hörte den Anrufbeantworter ab, doch nur ihr eigenes Rufen war darauf. Ihr Blick wanderte weiter zur Wohnungstür. Jemand steht draußen vor der Tür und klingelt. Ich bin es nicht, es ist nicht Zebra und nicht Annas Mutter. Welche anderen Freunde hatte Anna? Erst vor kurzem, im April, behauptete sie, allein zu
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