Vor dem Frost
dachte sie. Häkan und ich haben uns auch Hütten gebaut. Sie bog weitere Zweige zur Seite. Am Boden der Schlucht war tatsächlich eine Hütte. Aber sie war viel zu groß, um von einem Kind zu stammen. Plötzlich fiel ihr etwas ein, was Häkan ihr vor einigen Jahren in einer Illustrierten, vermutlich
Se,
gezeigt hatte. Ein Unterschlupf im Wald, der einem gesuchten Einbrecher mit dem merkwürdigen Namen »der bildschöne Bengtsson« gehört hatte. Er hatte in einer großen Hütte im Wald gelebt, die nur entdeckt worden war, weil jemand sich verirrt hatte.
Sie trat näher. Die Hütte war aus Brettern gemacht und hatte ein Blechdach. Es gab keinen Schornstein. Die Rückseite der Hütte lehnte sich an eine der steilen Felswände der Schlucht. Sie faßte die Tür an. Es gab kein Schloß. Sie sah ein, wie idiotisch es war, als sie an die Tür klopfte. Wer sollte zu Hause sein, ohne gehört zu haben, wie sie Zweige zur Seite geräumt und hinunter zur Hütte gegangen war? Sie wunderte sich mehr und mehr. Wer versteckte sich im Wald von Rannesholm?
In ihrem Kopf begann ein Warnsignal zu schrillen. Zuerst schüttelte sie den Gedanken ab. Sie hatte im allgemeinen keine Angst. Bei verschiedenen Gelegenheiten waren ihr auf einsam gelegenen Pfaden unangenehme Männer begegnet. Wenn sie Angst hatte, verbarg sie die gut hinter einer Maske von barschem Auftreten. Es war noch nie etwas passiert. Auch hier würde nichts passieren. Aber sie dachte, daß sie gegen ihren gesunden Menschenverstand argumentierte. Nur jemand, der gute Gründe dafür hatte, hielt sich im Wald in einer Hütte verborgen. Es wäre besser, wenn sie ginge. Gleichzeitig konnte sie sich nicht von dem Platz losreißen. Der Pfad hatte ein Ziel. Niemand, der nicht wie sie über einen geübten Blick verfügte, hätte ihn finden können. Aber derjenige, der die Hütte benutzte, kam von einer anderen Seite auf den Pfad. Das war das Rätselhafte. War der Pfad, den sie gefunden hatte, nur ein Reserveausgang aus der Schlucht, wie bei einem Fuchsbau? Oder hatte der Pfad früher eine andere Funktion gehabt? Ihre Neugier gewann die Oberhand.
Sie öffnete die Tür. Die beiden kleinen Fenster an den Schmalseiten ließen kaum Licht herein. Sie machte die Taschenlampe an und ließ den Lichtkegel über die Wände wandern. An der einen Wand stand ein Bett, außerdem gab es einen kleinen Tisch, einen Stuhl, zwei Petroleumlampen und einen Campingkocher. Sie versuchte nachzudenken. Wie lange hatte die Hütte leergestanden? Wer hatte sie benutzt? Sie beugte sich vor und befühlte das Bettlaken. Es war nicht feucht. Die Hütte stand noch nicht lange leer. Wieder dachte sie, daß sie lieber gehen sollte. Derjenige, der die Hütte errichtet hatte, wünschte sicher keinen unerwarteten Besuch.
Gerade als sie gehen wollte, fiel der Strahl der Taschenlampe auf ein Buch, das neben dem Bett auf dem Boden lag. Sie bückte sich. Es war eine Bibel, das Alte und das Neue Testament. Sie nahm sie in die Hand und schlug sie auf. Auf der Innenseite des Deckels stand ein Name geschrieben. Aber er war durchgestrichen. Die Bibel war gründlich benutzt, die Seiten waren abgegriffen und zerfleddert. Einzelne Verse waren angestrichen. Vorsichtig legte sie das Buch zurück. Sie knipste die Lampe aus und merkte sofort, daß etwas anders war. Das Licht war stärker. Es kam nicht nur von den Fenstern. Die Tür hinter ihr mußte aufgemacht worden sein. Hastig drehte sie sich um. Aber es war zu spät. Es war, als habe ein Raubtier ihr die Pranke direkt ins Gesicht geschlagen. Sie fiel in ein tiefes Dunkel, das nie mehr enden sollte.
Nach dem Besuch bei Henrietta blieb Linda noch lange auf und wartete darauf, daß ihr Vater nach Hause käme. Aber als er kurz nach zwei Uhr am Morgen vorsichtig die Wohnungstür öffnete, war sie auf dem Sofa im Wohnzimmer mit einer Wolldecke über dem Kopf eingeschlafen. Ein paar Stunden später erwachte sie plötzlich aus einem Alptraum. Was sie geträumt hatte, wußte sie nicht, nur, daß sie im Begriff war zu ersticken. Schnarchgeräusche rollten durch die stille Wohnung. Sie ging ins Schlafzimmer, wo das Licht brannte, und sah ihren Vater. Er lag auf dem Rücken, ins Laken eingerollt. Er sieht aus wie ein Walroß, das sich gemütlich auf einer Felsenklippe ausgestreckt hat, fand sie. Zwischen zwei Schnarchern beugte sie sich über ihn. Er hatte eine deutliche Fahne.
Sie überlegte, wer wohl sein Trinkkumpan gewesen war. Die Hose, die auf dem Fußboden lag, war schmutzig, als
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