Vor dem Frost
prüfte und ins Innere des Hauses zu sehen versuchte. Dann verschwand er zur Vorderseite des Hauses.
Als Linda allein war, begann sie wieder an Henrietta zu denken. Jetzt, wo sie eine gewisse Distanz zu ihrer Begegnung gefunden hatte, war ihr intuitives Gefühl der Gewißheit gewichen. Henrietta hatte nicht die Wahrheit gesagt. Sie verbarg etwas, was mit Anna zu tun hatte. Linda holte ihr Handy hervor und wählte Annas Nummer. Das Klingeln ertönte, der Anrufbeantworter ging an. Linda sprach keine Nachricht aufs Band, schaltete ihr Handy aus, stand auf und ging auf die Vorderseite des Hauses. Da stand ihr Vater und betätigte den Schwengel einer quietschenden Pumpe. Braunes Wasser ergoß sich in eine rostige Wanne.
Er schüttelte den Kopf. »Wenn ich das Haus auf den Rücken nehmen und irgendwo am Meer absetzen könnte, würde ich nicht zögern. Aber hier ist mir zuviel Wald.«
»Du solltest dir einen Wohnwagen anschaffen«, sagte Linda. »Den kannst du am Meer abstellen. Alle würden dir eine Ecke ihres Grundstücks abtreten.«
»Warum sollten sie?«
»Jeder möchte doch kostenlos einen Polizisten neben sich haben.«
Er schnitt eine Grimasse, leerte die Wanne und ging zur Straße. Linda folgte ihm. Er dreht sich nicht um, dachte sie. Das Haus hat er schon vergessen.
Sie fuhren nicht gleich los. Linda schaute dem Milan nach, der über die Felder glitt und zum Horizont hin verschwand.
»Was möchtest du machen?« fragte er.
Linda dachte an Anna. Sie mußte mit ihrem Vater darüber reden, daß sie sich Sorgen machte. »Ich muß mit dir reden. Aber nicht hier.«
»Dann weiß ich, wohin wir fahren können.«
»Wohin?«
»Du wirst schon sehen.«
Sie fuhren nach Süden, bogen links in Richtung Malmö ab und folgten dann einem Schild, das nach Kadesjö wies. Es gab einen Wald dort, einen der schönsten, die Linda kannte. Sie hatte geahnt, daß sie auf dem Weg dorthin waren. Ihr Vater und sie waren sehr oft dort spazierengegangen, besonders als sie zehn, elf Jahre alt war, noch kein Teenager. Sie hatte auch eine vage Erinnerung daran, einmal mit ihrer Mutter dort gewesen zu sein. Aber sie konnte nicht die ganze Familie zusammen vor sich sehen.
Sie ließen den Wagen an einem Holzlagerplatz stehen. Die dicken, frischgefällten Baumstämme dufteten. Sie folgten einem der Pfade durch den Wald bis zu der eigentümlichen Blechstatue, die zur Erinnerung an einen Besuch errichtet worden war, den Karl XII. möglicherweise in Kadesjö gemacht hatte. Linda wollte gerade anfangen, von Anna zu sprechen, als ihr Vater die Hand hob.
Sie standen an einer kleinen Lichtung zwischen hohen Bäumen. »Dies hier ist mein Friedhof«, sagte er. »Mein wirklicher Friedhof.«
»Was meinst du damit?«
»Ich bin gerade dabei, ein großes Geheimnis zu lüften, vielleicht eines meiner größten. Wahrscheinlich werde ich es morgen bereuen. Die Bäume, die du hier siehst, die gehören jeder einem meiner toten Freunde. Auch mein Vater ist dabei, meine Mutter, alle alten Verwandten.«
Er zeigte auf eine noch junge Eiche. »Diesen Baum habe ich Stefan Fredman gegeben. Dem verzweifelten Indianer. Auch er gehört zu meinen Toten.«
»Und die, von der du gesprochen hast?«
»Yvonne Ander? Dort drüben.«
Er zeigte auf eine andere Eiche, die ein mächtiges Astwerk entfaltete. »Ich kam ein paar Wochen nach Vaters Tod hierher. Mir war, als sei mir der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Du warst viel stärker als ich. Ich saß im Präsidium und versuchte, die Wahrheit über einen schweren Fall von Körperverletzung ans Licht zu bringen. Es war eine Art von Ironie, daß es sich um einen jungen Mann handelte, der seinen Vater mit einem Vorschlaghammer fast totgeschlagen hatte. Dieser Junge, der log die ganze Zeit. Plötzlich hatte ich die Nase voll. Ich brach das Verhör ab und fuhr hierher. Ich nahm einen Funkstreifenwagen und schaltete die Sirene ein, um so schnell wie möglich aus der Stadt herauszukommen. Nachher bekam ich Ärger deswegen. Aber als ich hier ankam, da stellte ich mir vor, die Bäume seien die Grabsteine aller meiner Toten. Hierher, nicht zum Friedhof mußte ich kommen, um sie wiederzutreffen. Ich fühle hier eine Ruhe, wie ich sie sonst nirgendwo erlebe. Hier kann ich meine Toten umarmen, ohne daß sie mich sehen.«
»Ich werde dein Geheimnis nicht weitersagen. Danke, daß du mir davon erzählt hast.«
Sie blieben noch eine Weile unter den Bäumen. Linda wollte nicht fragen, welches der Baum ihres Großvaters war.
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