Vor dem Frost
längeren Ruhepause gezwungen. Es war eine schwere Zeit. Auch wenn sie sich auf ihr Schreiben konzentrieren konnte, machte die Unbeweglichkeit sie rastlos und gereizt. Ihr Mann war gerade gestorben, als das Unglück geschah, und sie war verwöhnt, weil er derjenige war, der die Hausarbeit gemacht hatte. Sie verkaufte das Haus in Rydsgärd und zog in die kleine Wohnung nach Skurup.
Sie wich ein paar herabhängenden Zweigen aus und trat zwischen die Bäume. Einmal hatte sie etwas von einer Lichtung gelesen,
die nur der finden kann, der sich verirrt hat.
So stellte sie sich das große Geheimnis des Menschseins vor. Wenn man nur das Risiko in Kauf nahm, in die Irre zu gehen, wartete das Unerwartete. Wagte man, sich dem Umweg anzuvertrauen, erwarteten einen Erlebnisse, von deren Existenz diejenigen, die sich an die Autobahnen hielten, nicht einmal etwas ahnten. Ich suche nach den vergessenen Pfaden, dachte sie. Nach Wegen, die darauf warten, aus ihrem tiefen Schlaf erweckt zu werden. Unbewohnte Häuser verfallen. Genauso ist es mit Pfaden. Wege, die nicht genutzt werden, sterben.
Sie war jetzt tief im Wald. Sie hielt inne und lauschte. Irgendwo knackte ein Zweig. Dann war es wieder still. Ein Vogel flatterte auf und verschwand. Sie ging weiter, geduckt, die Pfadfinderin. Sie bewegte sich langsam, Schritt für Schritt.
Der Pfad war unsichtbar. Aber sie konnte ihn sehen, die Konturen unter dem Moos, dem Gras, den heruntergefallenen Zweigen.
Doch allmählich stellte sich Enttäuschung ein. Es war kein alter Pfad, den sie entdeckt hatte. Als sie zunächst den Pfad nur geahnt hatte, dachte sie, sie habe endlich die Reste des alten Pilgerpfads gefunden, der sich irgendwo nicht weit vom Ledsjö befinden sollte. Um den Ledsjö war er verschwunden, niemand hatte seinen Verlauf ausfindig gemacht, bevor er nordwestlich von Sturup wieder sichtbar wurde. Manchmal hatte sie gedacht, daß die Pilger der Frühzeit vielleicht einen Tunnel gegraben hatten. Sie müßte nach einer Öffnung im Boden suchen. Doch Pilger gruben keine Erdgänge, sie hatten einen Pfad, dem sie folgten. Und sie hatte ihn nicht gefunden. Bis jetzt, glaubte sie. Aber schon nach nicht einmal hundert Metern war sie überzeugt, daß der Pfad in jüngerer Zeit angelegt und genutzt worden war. Warum er aufgegeben worden war, würde sie erst sagen können, wenn sie das Ziel gefunden hatte. Sie war dreihundert Meter in den Wald hineingegangen, der an dieser Stelle sehr dicht und beinah undurchdringlich war.
Plötzlich blieb sie stehen. Etwas auf dem Boden verwirrte sie. Sie ging in die Hocke und stocherte mit dem Finger im Moos. Etwas Weißes hatte ihre Aufmerksamkeit geweckt. Sie nahm es in die Hand. Eine Feder. Eine weiße Feder. Eine Waldtaube, dachte sie. Aber gab es weiße Waldtauben? Waren sie nicht braun, oder eher noch blau? Sie kam wieder hoch und untersuchte die Feder. Eine Schwanenfeder. Aber wie konnte sie so tief im Wald gelandet sein? Schwäne gehen zwar an Land. Aber sie wandern nicht auf unbekannten Pfaden.
Sie ging weiter. Nach wenigen Metern blieb sie erneut stehen. Sie hatte etwas gesehen, was sie irritierte. Das Gras war niedergetreten. Jemand war erst kürzlich hier gegangen. Aber woher kamen die Fußspuren? Sie ging ein Stück zurück und fing noch einmal von vorn an. Nach ungefähr zehn Minuten wurde ihr klar, daß jemand aus dem Wald gekommen sein mußte und erst hier auf den Pfad gestoßen war. Vorsichtig ging sie weiter. Ihre Neugier war jetzt geringer, nachdem sie eingesehen hatte, daß der verschwundene Pilgerpfad ihr wieder einmal einen Streich spielte. Hier handelte es sich um einen Pfad, der lediglich ein Ausläufer war, vielleicht eine Verzweigung, die zu Zeiten des Freiluftsportlers Haverman angelegt worden, aber jetzt nicht mehr in Gebrauch war. Die Fußspuren auf dem Pfad vor ihr konnten die eines Jägers sein.
Sie folgte den Spuren noch einige hundert Meter. Vor ihr lag eine Schlucht, eine Erdspalte, von Dickicht bedeckt. Der Pfad lief hinunter in die Schlucht. Sie setzte ihren Rucksack ab, nachdem sie die Taschenlampe in die Jackentasche gesteckt hatte, und stieg auf leisen Sohlen, sich zwischen den Büschen vorwärtstastend, in die Senke hinab. Sie hob einen Ast zur Seite und entdeckte, daß er abgesägt war. Sie runzelte die Stirn, nahm einen weiteren Zweig in die Hand, auch der hatte eine glatte Schnittfläche. Abgesägt oder abgeschlagen. Sie erkannte, daß sie vor etwas stand, das bewußt verdeckt war. Spielende Jungen,
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