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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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sei er bis über die Knöchel im Schlamm gewatet. Er ist auf dem Land gewesen, dachte sie. Bei seinem alten Kumpel Sten Widen Sie haben im Stall gesessen und zusammen eine Flasche Schnaps geleert.
    Linda verließ das Schlafzimmer und dachte, daß sie eigentlich Lust hatte, ihn zu wecken und zur Rede zu stellen. Wofür zur Rede zu stellen? Sten Widen war einer seiner besten Freunde. Jetzt war er krank, schwer krank. Wenn ihr Vater richtig ernst war, pflegte er von sich selbst in der dritten Person zu sprechen. Wenn Sten stirbt, wird Kurt Wallander ein einsamer Mann, hatte er gesagt. Jetzt hatte Sten Widen Lungenkrebs. Linda kannte die merkwürdige Geschichte von dem Reitstall, den Sten Widen neben der Burgruine von Stjärnsund betrieb, ziemlich gut. Vor einigen Jahren hatte er seinen Betrieb abgewickelt und den Hof verkauft. Doch gerade als der neue Besitzer einziehen wollte, hatte Sten Widen alles bereut. Lindas Vater hatte von der Klausel im Kaufvertrag erzählt, die Sten das Recht einräumte, das Geschäft rückgängig zu machen. Er hatte wieder ein paar Pferde angeschafft. Dann hatte er von seiner Krankheit erfahren. Ein Gnadenjahr war bereits vergangen. Jetzt würde er seine Pferde verkaufen und in ein Hospiz für Sterbende gehen, in dem er sich einen Platz besorgt hatte. Dort würde er sein Leben beschließen. Der Hof sollte endgültig verkauft werden. Diesmal würde das Geschäft nicht rückgängig gemacht werden.
    Sie zog sich aus und legte sich ins Bett. Es war ein paar Minuten vor fünf. Sie blickte an die Decke und verspürte ein schlechtes Gewissen. Gönne ich meinem Vater nicht, daß er sich mit seinem besten Freund betrinkt, der außerdem bald sterben wird? Was weiß ich davon, worüber sie miteinander reden, was sie einander bedeuten. Ich habe mir immer vorgestellt, daß mein Vater seinen Freunden ein guter Freund ist. Das bedeutet auch, daß man eine Nacht mit einem Mann, der bald sterben wird, in einem Stall zusammensitzt. Sie bekam Lust, aufzustehen und ihn zu wecken, um sich bei ihm zu entschuldigen. Das wäre das einzig Richtige. Aber er würde nur wütend werden, weil ich ihn störe. Er hat heute frei, und vielleicht unternehmen wir etwas gemeinsam.
    Bevor sie einschlief, dachte sie noch einmal an die Begegnung mit Henrietta. Sie hatte nicht die Wahrheit gesagt. Sie verbarg etwas. Wußte sie, wo Anna war? Oder war da etwas anderes, worüber sie nicht sprechen wollte? Linda legte sich auf die Seite, rollte sich in Embryonalstellung zusammen und dachte schläfrig, daß sie sehr bald anfangen würde, einen Freund an ihrer Seite zu vermissen, im Schlafen wie im Wachen. Aber wo finde ich hier einen? Ich habe mich daran gewöhnt zu glauben, daß jemand, der mir auf schonisch sagt, daß er mich liebt, es wirklich ernst meint. Sie schob die Gedanken fort, glättete das Kopfkissen und schlief ein.
    Um neun Uhr rüttelte jemand sie wach. Linda fuhr auf, darauf eingestellt, verschlafen zu haben, und sah direkt ins Gesicht ihres Vaters. Er wirkte nicht im geringsten verkatert. Er war schon fertig angezogen und hatte sich ausnahmsweise ordentlich gekämmt. »Frühstück«, sagte er. »Die Zeit vergeht, das Leben läuft uns davon.«
    Linda duschte und zog sich an. Er legte am Frühstückstisch eine Patience, als sie sich setzte.
    »Ich vermute, du warst gestern bei Sten Widen.«
    »Richtig.«
    »Ich glaube außerdem, daß ihr reichlich getrunken habt.«
    »Falsch. Wir haben ganz entschieden zuviel getrunken.«
    »Wie bist du nach Hause gekommen?«
    »Taxi.«
    »Wie ging es ihm?«
    »Ich wollte, ich wäre ähnlich tapfer, wenn ich erfahre, daß meine Zeit ausläuft. Er sagte folgendes: Man hat im Leben eine bestimmte Anzahl von Galopprennen. Dann ist es vorbei. Das einzige, was man tun kann, ist zu versuchen, so viele von ihnen wie möglich zu gewinnen.«
    »Hat er Schmerzen?«
    »Bestimmt. Aber das sagt er nicht. Er ist wie Rydberg.«
    »Wer?«
    »Evert Rydberg. Hast du ihn vergessen? Ein alter Kollege von hier, mit einem Muttermal auf der Backe.«
    Linda hatte eine vage Vorstellung. »Ja, vielleicht erinnere ich mich.«
    »Er war es, der einen Polizisten aus mir gemacht hat, als ich jung war und noch von nichts eine Ahnung hatte. Er ist auch viel zu früh gestorben. Aber kein Wort der Klage, nichts. Er hatte auch seine Galopprennen und akzeptierte es, als seine Zeit um war.«
    »Wer bringt mir all das bei, wovon ich keine Ahnung habe?«
    »Ich dachte, du hättest Martinsson als Ausbilder.«
    »Ist er

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