Vor dem Frost
Sie dachte, daß es wahrscheinlich die kräftige, ziemlich einsam wirkende Eiche war, die ein wenig entfernt von den anderen stand.
Die Sonne schien durchs Laubwerk herab. Es kam Wind auf, und sogleich wurde es kühler. Linda gab sich einen Ruck und erzählte davon, daß Anna verschwunden war, daß Henrietta nicht die Wahrheit sagte und daß sie das Gefühl nicht loswurde, es sei etwas passiert.
»Du kannst etwas Dummes tun«, sagte sie am Schluß. »Wenn du nämlich über das Ganze den Kopf schüttelst und sagst, ich sei überspannt und alles sei nur Einbildung. Dann werde ich wütend. Aber wenn du sagst, du glaubst, daß ich mich irre, und mir erklärst, warum, dann höre ich dir zu.«
»Du wirst als Polizistin eine grundlegende Erfahrung machen«, antwortete er. »Das Unerklärliche trifft fast nie ein. Auch für ein Verschwinden gibt es meistens eine ganz plausible, aber vielleicht unerwartete Erklärung. Als Polizistin lernst du, zwischen dem Unerklärlichen und dem Unerwarteten zu unterscheiden. Das Unerwartete kann ganz logisch, aber unmöglich herauszufinden sein, bevor man die Erklärung bekommen hat. Nicht zuletzt gilt das für die meisten Fälle von Verschwinden. Du weißt nicht, was Anna passiert ist. Du machst dir Sorgen, das ist normal. Aber meine Erfahrung sagt mir, daß du dich vielleicht auf die einzige Tugend besinnen solltest, deren ein Polizeibeamter sich rühmen kann.«
»Geduld?«
»Ganz richtig. Geduld.«
»Wie lange?«
»Ein paar Tage. Und dann ist sie sicher wieder aufgetaucht. Oder hat von sich hören lassen.«
»Ich bin trotzdem sicher, daß ihre Mutter gelogen hat.«
»Ich glaube nicht, daß Mona und ich immer die Wahrheit gesagt haben, wenn wir von dir sprachen.«
»Ich werde mich in Geduld üben. Aber auf jeden Fall sagt mir mein Gefühl, daß irgend etwas nicht stimmt.«
Sie kehrten zum Wagen zurück. Es war nach ein Uhr. Linda schlug vor, irgendwo hinzufahren und zu Mittag zu essen.
Sie fuhren zu dem Gasthaus, das den sonderbaren Namen ›Vaters Hut‹ trug. Kurt Wallander hatte eine vage Erinnerung daran, irgendwann mit seinem Vater dort gegessen und sich heftig mit ihm gestritten zu haben. Worum es dabei gegangen war, wußte er nicht mehr.
»Gasthäuser, wo ich Streit hatte«, sagte Linda. »Man kann alles mit Namen versehen. Wahrscheinlich habt ihr euch darüber gestritten, daß du Polizist geworden bist. Ich kann mich nicht erinnern, daß ihr euch über etwas anderes uneins wart.«
»Du hast keine Ahnung. Wir waren in bezug auf alles uneins. Obwohl wir eigentlich zwei trotzige Jungen waren, die nie erwachsen wurden und das ewige verbissene Spiel spielten. Er warf mir vor, ihn zu vernachlässigen, wenn ich fünf Minuten später als verabredet kam. Er konnte sogar so diabolisch sein, seine Uhr vorzustellen, um behaupten zu können, daß ich zu spät käme.«
Sie hatten gerade Kaffee bestellt, als ein Handy klingelte. Linda griff nach ihrem, aber es war das ihres Vaters, das den gleichen Klingelton hatte. Er meldete sich und lauschte, stellte ein paar einsilbige Fragen, machte eine Notiz auf der Rückseite der Rechnung, die gerade gekommen war, und beendete das Gespräch.
»Was war denn?«
»Eine vermißte Person.«
Er legte das Geld auf den Tisch, faltete die Rechnung zusammen und steckte sie ein.
»Was passiert jetzt?« fragte Linda. »Wer ist denn verschwunden?«
»Wir fahren zurück nach Ystad. Aber wir machen einen Umweg über Skurup. Eine alleinlebende Witwe, Birgitta Medberg, ist verschwunden. Ihre Tochter scheint überzeugt zu sein, daß ihr etwas zugestoßen ist.«
»Wie verschwunden?«
»Die Anruferin war sich nicht sicher. Aber anscheinend ist ihre Mutter eine Art Forscherin, die Feldarbeit betreibt und in den Wäldern nach alten Pfaden sucht. Merkwürdige Beschäftigung.«
»Vielleicht hat sie sich verirrt?«
»Genau das denke ich auch. Wir dürften es bald erfahren.«
Sie fuhren nach Skurup. Der Wind war stärker geworden. Es war neun Minuten nach drei am Mittwoch, dem 29. August.
Das Haus hatte ein Obergeschoß und war aus Ziegeln gebaut.
»Hast du ein solches Haus schon einmal gesehen?« fragte sie, als sie aus dem Wagen gestiegen waren und der Vater die Tür abschloß. Er warf einen Blick auf die Fassade.
»Es sieht aus wie das Haus, in dem du in Sollentuna gewohnt hast. Bevor du in das Wohnheim der Polizeihochschule gezogen bist.«
»Du hast ein gutes Gedächtnis. Was mache ich jetzt?«
»Du kommst mit. Sieh es als eine Art polizeilicher
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