Vor dem Frost
Fahrstunde an.«
»Verstößt du nicht gegen irgendwelche Regeln? Unbefugte, die bei einem Verhör anwesend sind oder so?«
»Dies hier ist kein Verhör. Nur ein Gespräch. Vielleicht hauptsächlich, um jemanden zu beruhigen, der sich unnötige Sorgen macht.«
»Aber trotzdem.«
»Es gibt kein ›aber trotzdem‹. Ich habe gegen Regeln verstoßen, seit ich bei der Polizei bin. Martinsson hat einmal ausgerechnet, daß ich vier Jahre im Knast sitzen müßte für alles, was ich angestellt habe. Aber das zählt nicht, solange ich meine Arbeit gut mache. Das ist einer der wenigen Punkte, in denen Nyberg und ich einer Meinung sind.«
»Nyberg, der von der Spurensicherung?«
»Meines Wissens ist das der einzige Nyberg, den wir in Ystad haben. Er geht bald in Pension. Keiner wird ihn vermissen. Oder es wird umgekehrt, daß allen seine entsetzlich schlechte Laune fehlen wird.«
Sie überquerten die Straße. Die starken Windböen trieben Schmutz vor sich her, der um ihre Füße wirbelte. Vor der Haustür stand ein Fahrrad ohne Hinterrad. Der Rahmen war verbogen, als sei das Fahrrad Opfer eines sadistischen Übergriffs gewesen. Sie gingen hinein.
Wallander las das Namensschild. »Birgitta Medberg. Sie ist die mutmaßlich Verschwundene. Ihre Tochter heißt Vanja. Dem Anruf von eben zufolge war sie vollkommen hysterisch und sprach mit einer extrem schrillen Stimme.«
»Ich bin nicht im mindesten hysterisch«, schrie eine Frau aus der Etage über ihnen. Sie beugte sich übers Treppengeländer und sah auf sie hinunter.
»Ich rede offenbar zu laut in Treppenhäusern«, murmelte er.
Sie gingen die Treppe hinauf.
»Genau, was ich mir gedacht habe«, sagte er freundlich, als er der mißtrauischen und nervösen Frau die Hand reichte. »Die Jungs auf der Wache sind unerfahrene Burschen. Die haben noch nicht gelernt, zwischen Hysterie und völlig normaler Erregung zu unterscheiden.«
Die Frau namens Vanja war um die Vierzig. Sie hatte kräftiges Übergewicht, und ihre Bluse war am Hals und an den Handgelenken schmutzig. Linda dachte, daß es lange hersein mußte, daß die Frau sich die Haare gewaschen hatte. Sie traten in die Wohnung ein. Linda erkannte sogleich den Duft, der ihr entgegenschlug. Mamas Parfüm, dachte sie. Das sie nahm, wenn sie unzufrieden oder ärgerlich war. Wenn es ihr gutging, benutzte sie ein anderes.
Sie kamen ins Wohnzimmer. Vanja ließ sich schwer in einen Sessel fallen und zeigte auf Linda, die nur kurz ihren Namen genannt hatte, als sie in den Flur traten. »Wer ist sie?«
»Eine Assistentin«, sagte Kurt Wallander forsch. »Können wir jetzt hören, was passiert ist?«
Vanja erzählte, ruckartig und nervös. Sie hatte Schwierigkeiten, Worte zu finden, auf jeden Fall war sie keine Frau, die sich häufig in längeren Sätzen ausdrücken mußte. Linda spürte, daß ihre Unruhe echt war. Sie verglich sie mit ihrer eigenen Unruhe wegen Anna.
Vanjas Geschichte war kurz. Ihre Mutter Birgitta war Kulturgeographin und widmete sich der Kartierung alter Wege und Pfade in Südschweden, vor allem in Schonen und Teilen von Smäland. Seit gut einem Jahr war sie Witwe. Sie hatte vier Enkelkinder, zu denen Vanja mit zwei Töchtern beigetragen hatte. Es waren die Töchter, die ihre Besorgnis ausgelöst hatten, so daß sie die Polizei angerufen hatte. Sie hatte mit ihrer Mutter verabredet, daß ihre Töchter sie um zwölf Uhr besuchen sollten. Vorher wollte die Mutter auf eine ihrer kleinen Exkursionen gehen, Pfadjagden, wie sie es nannte. Aber als Vanja mit ihren Töchtern kam, war ihre Mutter noch nicht wieder da. Sie hatte zwei Stunden gewartet und dann die Polizei angerufen.
Ihre Mutter würde ihre Enkelkinder nie enttäuschen. Es mußte also etwas passiert sein.
Sie verstummte. Linda versuchte, sich die erste Frage ihres Vaters vorzustellen: ›Wohin wollte sie?‹ »Wissen Sie, wohin sie heute morgen wollte?« fragte er.
»Nein.«
»Ich gehe davon aus, daß sie mit dem Wagen fährt.«
»Sie hat eine rote Vespa. Die ist vierzig Jahre alt.«
»Eine rote Vespa? Vierzig Jahre?«
»Vespas waren damals rot. Ich war noch nicht geboren. Aber Mama hat es mir erzählt. Sie ist Mitglied eines Clubs für alte Mopeds und Vespas. In Staffanstorp. Ich begreife nicht, warum. Aber sie liebt es, mit diesen Vespa-Narren zusammenzusein.«
»Sie sagten, sie sei vor einem Jahr Witwe geworden. Gab es Anzeichen dafür, daß sie deprimiert war?«
»Nein. Wenn Sie glauben, sie habe Selbstmord begangen, liegen Sie
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