Vor dem Frost
Geld. Dann mußte Mutter arbeiten. Da sie keine Ausbildung hatte, gab es im großen und ganzen nur zwei Möglichkeiten, entweder in einer Fabrik zu stehen oder Haushaltshilfe zu werden. Sie entschied sich für das letztere und landete bei der Familie Jorner, wohnte aber zu Hause. Der alte Jorner, er hieß Hugo, und seine Frau Tyra waren richtig widerwärtige Menschen. Für sie hatte sich die Gesellschaft in den letzten fünfzig Jahren nicht verändert. Es gab für sie nur Oberklasse und Unterklasse, sonst nichts. Er war der Schlimmere.
Eines Abends spät kam meine Mutter völlig verweint nach Hause. Mein Vater, der sie normalerweise nie fragte, wie es ihr ging, wollte wissen, was passiert sei. Ich saß auf dem Fußboden hinterm Sofa und lauschte, und ich vergesse es nie. Es hatte ein Fest gegeben bei Jorner, nicht viele Gäste, vielleicht waren sie acht um den Tisch. Und Mutter sollte servieren. Als sie zum Kaffee kamen und schon etwas angeheitert waren, besonders Hugo, rief er Mutter herein und bat sie, eine Trittleiter zu holen. Ich weiß es noch Wort für Wort, wie Mutter mit tränenerstickter Stimme erzählte. Sie holte die Trittleiter. Die Gäste saßen am Tisch, und Hugo, sadistisch, wie er war, sagte Mutter, sie solle auf die Leiter steigen. Sie tat, was er sagte, und dann erklärte er, daß sie von da oben wohl sehen könnte, daß sie vergessen hatte, einem der Gäste einen Kaffeelöffel hinzulegen. Dann schickte er Mutter mit der Leiter wieder hinaus, und sie hörte, wie sie hinter ihr lachten und sich zuprosteten.
Mutter fing an zu weinen, als sie fertig erzählt hatte, und sagte, sie würde nie wieder einen Fuß in das Haus setzen. Und Vater war so aufgebracht, daß er schon auf dem Weg zum Schuppen war, um die Axt zu holen und sie Jorner in den Kopf zu schlagen. Aber Mutter beruhigte ihn natürlich. Ich vergesse es nie. Ich war vielleicht zehn, zwölf Jahre alt. Und jetzt treffe ich eine der Schwiegertöchter der Familie.«
Er ließ mit einer heftigen Bewegung den Motor an. Linda merkte, wie aufgewühlt er war. Sie verließen Sturup.
Linda betrachtete die Landschaft, die Wolkenschatten, die über die Felder wanderten. »Ich frage mich oft, wie Großmutter wohl war. Sie starb ja lange vor meiner Geburt. Aber am meisten frage ich mich, wie jemand mit Großvater verheiratet sein konnte.«
Er lachte laut.
»Meine Mutter sagte immer, wenn man ihn mit ein bißchen Salz einriebe, täte er, was sie sagte. Ich habe nie verstanden, wie sie das meinte. Einen Menschen mit Salz einreihen? Aber Mutter hatte eine Engelsgeduld.«
Er trat hart auf die Bremse und wich an den äußersten Straßenrand aus. Ein offener Sportwagen machte ein riskantes Überholmanöver.
Wallander fluchte. »Eigentlich sollte ich den Kerl stellen.«
»Und warum tust du es nicht?«
»Weil ich mir Sorgen mache.«
Linda betrachtete ihren Vater. Er war angespannt. »Da ist etwas mit dieser vermißten Frau, was mir nicht gefällt. Ich glaube, daß alles, was Vanja Jorner gesagt hat, richtig ist. Ihre Sorge war nicht gespielt. Ich glaube, daß Birgitta Medberg entweder krank geworden ist, von einer völlig unvorhersehbaren Sinnesverwirrung befallen irgendwo herumirrt, oder daß etwas passiert ist.«
»Ein Verbrechen?«
»Ich weiß nicht. Aber mein freier Tag ist jetzt wohl zu Ende. Ich bringe dich nach Hause.«
»Ich fahre mit zum Präsidium und gehe zu Fuß nach Hause.«
Er parkte in der Tiefgarage der Polizei. Linda ging durch den Hinterausgang hinaus, duckte sich gegen den starken Wind und war plötzlich unschlüssig, was sie tun sollte. Es war inzwischen halb vier, der Wind war kalt, als näherte der Herbst sich sehr schnell. Sie machte sich auf den Weg nach Hause, besann sich aber und bog in Annas Straße ein. Sie klingelte, wartete und öffnete.
Sie brauchte nur ein paar Sekunden, um zu erkennen, daß etwas geschehen war. Zuerst wußte sie nicht, was. Dann wurde ihr klar, daß jemand in der Wohnung gewesen war. Sie wußte es, ohne zu verstehen, warum. Dann merkte sie, daß etwas fehlte. Sie stand in der Türöffnung des Wohnzimmers und suchte nach dem, was anders war. War etwas verschwunden? Etwas an der Wand? Sie trat ans Bücherregal und fuhr mit der Hand über die Buchrücken. Nichts fehlte. Sie setzte sich auf den Stuhl, den Anna meistens benutzte, und sah sich um. Etwas
war
verändert, da war sie sich sicher. Aber was? Sie stand auf und stellte sich ans Fenster, um den Raum aus anderer Perspektive wahrzunehmen. Da entdeckte
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